Gemuender Blut
Ich träume von einem Mädchen im Keller. Das Mädchen ist alleine und hat Angst. Ich habe keine Angst. Ich bin mutig. Das Mädchen weint.«
Tränen liefen über ihr Gesicht, tropften auf ihre Knie und liefen auf den Steinboden. Sie spürte es nicht. Sie hatte es geschafft. Ihren Körper mit seiner Angst und den Schmerzen zurückgelassen an dem dunklen Ort.
Stattdessen fühlte sie die Wärme ihrer Bettdecke und die Geborgenheit der weichen Kissen. Sie lächelte. Sie war glücklich.
* * *
»Was für ein Klischee!« Ich grinste. »Studentenwohnung wie aus dem Bilderbuch.«
Vor der Wohnungstür stapelten sich die Bierkästen bis zur Decke. Mit Filzstift, Kugelschreiber und Bleistift standen mehrere Namen auf dem Klingelschild geschrieben, zwei davon waren durchgestrichen. Auf einem Holzregal an der obersten Treppenstufe lagen Schuhe, deren Paare sich sicher erst nach einigem Suchen zusammenstellen lassen würden.
Ich drehte mich zu Steffen um.
»Was wollen wir wetten: Chaos, Spülberge und Putzpläne, an die sich keiner hält!« Meine Befürchtung, am Klingelknopf festzukleben, bewahrheitete sich erstaunlicherweise nicht.
»Ja, bitte?« Der junge Mann hielt einen Putzlappen in der rechten Hand. Mit der linken hatte er uns die Tür geöffnet. »Zu wem wollen Sie?« Er schob einen Eimer ein Stück zur Seite.
»Ist Jonas zu Hause?«
Das Lächeln in seinem Jungengesicht verschwand.
»Wer will das wissen?« Er musterte uns von oben bis unten.
»Ina.« Ich hielt ihm meine Hand hin und machte einen Schritt in den Wohnungsflur. »Und das ist Steffen.« Ich zog ihn ebenfalls in den Flur. »Wir sind aus Gemünd.«
»Jonas ist nicht da.« Er stützte sich auf seinen Schrubber und rührte sich nicht vom Fleck.
»Wann kommt er denn wieder?« Ich ließ meinen Blick über die Wände gleiten. Ein Zettel pinnte über dem anderen. Die eine oder andere Express-Schlagzeile konkurrierte mit Hochglanzfotos aus einschlägigen Herrenmagazinen.
»Weiß nicht. Er hat nix gesagt.« Jonas’ Mitbewohner wrang den Lappen aus, packte den Eimer und verschwand in einem der angrenzenden Räume. Wasserrauschen und das Klappern des Toilettendeckels verrieten mir, wo er sich befand. Ich schlenderte den Flur entlang und drückte eine weitere Tür auf. Die Küche. Steffen beugte sich von hinten über meine Schulter und lachte leise.
»Keine Spülberge«, murmelte er. »Doch kein Klischee.«
»Hier ist er auch nicht.« Der junge Mann schob sich zwischen uns und den Türrahmen und starrte mich an. »Ich denke, ihr geht jetzt besser. Jonas kann sich bei euch melden, wenn er wieder da ist.«
»Wie lange ist er denn schon weg?« So leicht wollte ich mich nicht abspeisen lassen.
»Lange genug.« Mit Schwung riss er die Tür zum Hausflur auf und verbeugte sich wie ein Lakai. »Wenn ich euch hinausbegleiten darf.«
Steffen lächelte ihn an. »Kann er uns anrufen, wenn er wieder da ist?«
»Wenn er eure Nummer hat – sicher.« Jetzt standen wir wieder da wie am Anfang unseres Besuches. Steffen und ich im Hausflur, der junge Mann auf seinen Schrubber gestützt. Dann fiel die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss.
»Freundlicher Geselle.« Steffen ging die Treppe hinunter und übersprang dabei zwei Stufen auf einmal. »Ausgesucht höflich.«
»Aber auskunftsfreudiger, als er vermutlich beabsichtigt hatte.« Ich blieb stehen und zog das Papierknäuel aus der Hosentasche. »Putzplan, wie vermutet.«
»Und?« Steffen wandte sich um.
»Hier steht, dass Jonas am Montag Putzdienst hatte. So wie es da drin aussah, nehmen die das erstaunlich ernst. Sein Name ist durchgestrichen und mit einem anderen überschrieben worden.« Ich fuhr mit dem Finger über die Spalten. »›Jo nicht da, tauschen?‹, steht bei dem, der den Dienst dann übernommen hat.«
»Willst du Sauerbier informieren?« Steffen hielt mir sein Handy hin. Ich schüttelte den Kopf.
»Noch nicht. Erst muss ich wissen, warum er uns belügt und wo er zur Tatzeit gewesen ist.«
»Und wo er jetzt ist.«
Ich nickte stumm.
»Sollen wir nach Gemünd zurückfahren?«
»Nein. Wir versuchen es morgen früh noch mal. Vielleicht taucht er ja in seiner WG auf.«
»Dieser Mitbewohner … Meinst du, er deckt Jonas irgendwie?«
»Glaub ich nicht. Eher hatte er keine Lust, irgendwelchen Wildfremden etwas auf die Nase zu binden.« Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um seine Hüfte. »Würdest du mir einfach so deine Lebensgeschichte erzählen?«
»Aber klar doch, Kommissarin.« Er gab mir
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