Gene sind kein Schicksal
nachweisen können, womöglich sind aber hunderte Erbanlagen betroffen. Je nachdem, wie der Kampf der Geschlechter ausgeht, kann das Körpergewicht eines gesunden Kindes um zehn Prozent schwanken. Und weil die betreffenden Gene im Gehirn vorkommen, beeinflusst das jeweilige Imprinting-Muster eines Menschen sein Denken und Handeln. David Haig sagt: »Es würde mich nicht wundern, wenn sich das Imprinting von Genen auf das Sozialverhalten auswirkt.« Das würde bedeuten: In den embryonalen Zellen entscheidet der Ringkampf zwischen den mütterlichen und väterlichen Genen mit über die spätere Persönlichkeit eines Kindes, etwa ob es eher verschlossen ist oder extrovertiert.
In den meisten Fällen geht der Kampf wohl einigermaßen unentschieden aus – das Verhalten des Kindes bildet sich im Spektrum des Normalen aus. Manchmal dagegen gewinnt eine der Parteien die Überhand – das Verhalten kann in den Bereich des Krankhaften hineinreichen.
Als dem Biologen Bernard Crespi von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby vor einiger Zeit die Bedeutung des Imprinting klar wurde, gab er seiner Karriere eine neue Richtung. Bis dahin war Crespi dafür bekannt, das Sozialverhalten von Insekten zu studieren. Seit seinem Erweckungserlebnis mit dem Imprinting hat er sich in die Psychologie und Psychiatrie eingearbeitet. In England war es der Soziologe Christopher Badcock von der London School of Economics, der einen ganz ähnlichen Moment der Erleuchtung erlebte und anfing, den Einfluss des Imprinting auf den Menschen zu erforschen. Crespi las einen Aufsatz von Badcock und schickte ihm eine Notiz – es war der Beginn einer Zusammenarbeit, die zu einer ganz neuen Sicht auf psychische Erkrankungen geführt hat: Seelische Leiden haben demnach weniger damit zu tun, welche Gene man geerbt hat oder nicht. Viel wichtiger erscheint, wie diese Gene gesteuert sind. Welche Gene sind auf »an« geschaltet, welche auf »aus«?
Die Fragen entscheiden sich, sobald der Samenfaden in die Eizelle dringt und das Ringen zwischen den mütterlichen und väterlichen Genen beginnt. Der Geschlechterkampf, glauben nun Crespi und Badcock, »könnte eine Schlüsselrolle spielen, ob im Gehirn des Sprösslings ein Gleichgewicht oder ein Ungleichgewicht entsteht«. [25] Fällt der Kampf deutlich zugunsten des Vaters aus, dann neigt das sich entwickelnde Gehirn zum autistischen Spektrum. Das Kind ist vergleichsweise anspruchsvoll und geht wenig auf die Mutter ein. Eher ist es an Objekten, Mustern und mechanischen Dingen interessiert, was generell zu Lasten der sozialen Fähigkeiten geht. Tatsächlich haben autistische Menschen eine verstärkte Aktivität von
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-Genen, also ein Imprinting zugunsten des Vaters.
Geht der Konflikt für die Mutter aus, dann tendiert das wachsende Gehirn eher zum psychotischen Spektrum. Das Kind ist klein, sanftmütig, verständnisvoll – und damit für die Mutter leicht zu erziehen. Bei allzu starker Prägung kann die Rücksicht jedoch krankhafte Züge annehmen. Das Kind ist starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt und hat ein höheres Risiko, später im Leben an seelischen Störungen zu erkranken.
Autismus und Schizophrenie sind demnach keine getrennten Krankheiten, sondern sie sind miteinander verbunden und liegen wie Antagonisten an den Enden eines Spektrums. Dazu passen die entgegengesetzten Symptome: hier die Einfalt des Autisten, da die Zwiespältigkeit des psychotischen Menschen.
Das Spannende an dieser Hypothese ist, dass sie den Einfluss der Gene auf unser seelisches Wohlbefinden neu bewertet. Schon in den Zellen des Embryos sind es demnach äußere Faktoren, die dem Erbgut einen Stempel aufdrücken. Je nachdem, ob eine bestimmte Region auf dem Erbgut aktiv ist oder stillgelegt, führt das zu unterschiedlichen und sogar entgegengesetzten Verhaltensweisen. In den meisten Fällen ist die vorgeburtliche Prägung aber nicht extrem: Die seelische Verfassung liegt im Bereich des Normalen.
Peter und Paula, die Geschwister aus Niedersachsen, haben dagegen einen extremen Prägefehler auf dem Chromosom 15 und aus diesem Grund das besondere Aussehen und Verhalten: die kurze Statur, die Leibesfülle, die geistige Behinderung. Während die Mutter die Kinder so nahm, wie sie kamen, wollte sich der Vater nicht mit ihnen abfinden. Die Verwandten auf seiner Seite haben der Mutter sogar Vorhaltungen gemacht. Es war ein in jeder Hinsicht entsetzlicher Vorwurf – und war er überhaupt zutreffend? Der Genetiker
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