Gene sind kein Schicksal
Gehirn sei mit der Kindheit ausgereift und könne im Erwachsenenalter nimmermehr neue Zellen hervorbringen.
Vom Dauerstress zur Depression
Nun aber weisen die Stressforscher ausgerechnet dem so lange verkannten Hippocampus eine zentrale Bedeutung zu: »Chronischer Stress verhindert, dass im Hippocampus neue Nervenzellen entstehen«, erklärt Perera. »Das führt dazu, dass ein Mensch gerade kleine Veränderungen in seiner Umgebung nicht mehr wahrnimmt. Er merkt es gar nicht, wenn sich die Dinge allmählich zum Besseren wenden, sondern er bleibt dauerhaft in düsterer Verfassung – und genau diesen Zustand nennen wir Psychiater eine Depression.« Ähnliches hatte einst schon Sigmund Freud vermutet: Wenn der Mensch seine Trauer nicht überwinde, verfestige sich diese zur – krankhaften – Melancholie.
Auslöser dieser Verwandlung ist chronischer Stress. Wie ein Dauerfeuer verändert er die Physiologie der Nervenzellen – der grübelnde Geist wird zur kranken Seele. Dauerstress nimmt die Neugier, vermindert die Auffassungsgabe, verschlechtert das Gedächtnis und führt dazu, dass das Gehirn Sorgen nicht mehr normal verarbeitet. Das alles macht den Stress zum wichtigen Grund für Vergesslichkeit, Angststörungen und krankhafte Niedergeschlagenheit. 90 Prozent aller Depressionen werden durch Stress ausgelöst.
Doch das menschliche Gehirn ist den vielfältigen Stressauslösern nicht so schutzlos ausgeliefert, wie es lange vermutet wurde. Die Studien von Britta Hölzel und Tarique Perera haben es gezeigt. Im Denkorgan schlummert ein erstaunliches Potential zur Regeneration, die physiologischen Stresseinflüsse auf das Nervensystem sind umkehrbar.
»Das Gehirn kann sehr plastisch, also wandelbar reagieren«, sagt Eberhard Fuchs, der am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen erforscht, wie psychosoziale Not auf Leib und Seele einwirkt. »Stress ist ein reversibler Prozess.« Und auch der Neurobiologe Bruce McEwen von der Rockefeller University in Manhattan zieht nach vier Jahrzehnten Stressforschung ein ermutigendes Fazit. In seinem mit Fachjournalen und Papierstapeln übersäten Büro versichert er dem Besucher: »Wir müssen nicht zu Opfern unseres gestressten Gehirns werden.«
Leiden an der modernen Welt
Der Stress, den heute fast jeder zu verspüren glaubt, ja selbst das Wort dafür, war der Medizin Anfang des vorigen Jahrhunderts noch völlig unbekannt. Seine Karriere begann mit dem Wirken des amerikanischen Physiologen Walter Cannon ( 1871 bis 1945 ), der studierte, wie die Darmmuskulatur die Nahrung in Richtung After schiebt. Dazu fütterte er Katzen und durchleuchtete ihre Eingeweide mit Röntgenstrahlen.
Schon bald fiel ihm auf, wie viele seiner Versuchstiere sich als untauglich erwiesen – und zwar stets jene, die sich fauchend gegen die Experimente sträubten: Die peristaltischen Kräfte ihres Darms erlahmten; kurzum: Sie hatten Verstopfung.
Der Wissenschaftler wunderte sich: Verminderten die Angstgefühle etwa die Verdauung? Aber wie nur?
Um das herauszufinden, ersann Cannon folgendes Experiment: Er hielt je eine Katze eine Weile in einem Käfig – und ließ dann einen Hund hinein, der an ihr schnüffelte und bellte. Den dadurch verängstigten Katzen nahm der Forscher Blut ab und verglich es mit Proben von Kontrolltieren, die er nicht in Angst und Schrecken versetzt hatte. Ergebnis: Das Blut der bedrohten Katzen enthielt hohe Mengen eines Hormons, dessen Name heute in aller Munde ist: Adrenalin. Damals war bekannt, dass Adrenalin Blutdruck und Blutzucker steigen lässt und die Verdauung hemmt. Die Verbindung mit Angst und Emotionen war dagegen neu.
Walter Cannon dachte viel über seine Befunde nach und entwarf eine neue Theorie. Die vielfältigen Reaktionen waren Teil eines evolutionären Überlebensprogramms, damit der Körper sich im Ernstfall auf »Kampf oder Flucht« einstellen könne. Sobald die Gefahr vorbei sei, würden sich die Körpervorgänge wieder beruhigen. »Homöostase« taufte Cannon diese Art der Regulation. Auch Menschen verfügen über eine solche Kampf-oder-Flucht-Reaktion, davon war Walter Cannon überzeugt.
Diese Gedanken beschäftigten den Amerikaner besonders zu Zeiten der 1929 einsetzenden großen Weltwirtschaftskrise. Die besorgten und gestressten Zeitgenossen kamen ihm vor wie eingesperrte Katzen, die ständig angekläfft werden. »Es ist deshalb nicht überraschend«, erklärte Cannon anno 1936 vor einer Gruppe von Ärzten, »dass Ängste, Sorgen und Hass zu
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