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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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tagsüber gleichsam in den Seilen.
    Auch dieser seelische Stress geht mit morphologischen Veränderungen im Hippocampus des Verlierers einher, hat die Gruppe um Fuchs erkannt. Nervenzellen, die normalerweise ganze Büschel von Fortsätzen tragen, verkümmern und ziehen diese Nervenantennen ein. Zum anderen ist die Herstellung neuer Nervenzellen deutlich gedrosselt. »Dadurch wird die Wandelbarkeit des Gehirns eingeschränkt«, sagt Fuchs. Allerdings hat er auch Erfreuliches zu berichten: »Diese Vorgänge lassen sich umkehren.«
    Das haben die Göttinger in einem wegweisenden Experiment gezeigt: Sie gaben den Spitzhörnchen-Männchen nach fünf Wochen Dauerstress ein Antidepressivum. Unter Einfluss des pharmakologischen Wirkstoffs bekamen ihre Gehirne wieder die ursprüngliche Größe, die Neuronen erholten sich, und im Hippocampus entstanden wieder neue Nervenzellen. Nach zwei- bis dreiwöchiger Medikamentenkur schienen die Belastungen und Demütigungen aus dem Kopf getilgt. Die Spitzhörnchen putzten sich wieder und markierten ihr Revier.
    Diese Erkenntnis hat der Behandlung gestresster Menschen eine völlig neue Perspektive gegeben. Lange haben Ärzte gerätselt, wie chronischer Stress mit der Entstehung von Depressionen und der Verschlechterung des Gedächtnisses zusammenhängt – es scheint das gestörte Wachstum neuer Nervenzellen, die Neurogenese, im Hippocampus zu sein. Um diese Vermutung zu überprüfen, haben Mediziner in Tierversuchen noch einmal nachgeschaut, wie die gängigen Mittel gegen Depressionen eigentlich wirken. Praktisch alle haben ein und dieselbe Wirkung – sie lassen frische Neuronen im Hippocampus sprießen.
    Mit Versuchen an seinen isolierten Indischen Hutaffen hat der Psychiater Perera am New York State Psychiatric Institute die Vermutung weiter erhärtet. Das Gehirn einiger Tiere bestrahlte er gezielt mit Röntgenstrahlen, bevor er ihnen das Antistressmedikament gab. Die Bestrahlung verhinderte generell die Entstehung neuer Neuronen – und tatsächlich blieb das Medikament diesmal wirkungslos und konnte die Stresssymptome nicht bekämpfen.
    Mittlerweile haben sich Forscher darangemacht, Substanzen zu entwickeln, um die segensreiche Neurogenese wirksamer als bisher anzukurbeln. Gleich mehrere Pharmafirmen, darunter das französische Unternehmen Servier, erprobten bereits Substanzen an Spitzhörnchen. Am Ende könnten Arzneimittel stehen, die gleichermaßen gegen Depressionen, Schlafprobleme und Gedächtnisstörungen gegeben werden. Der Göttinger Neurobiologe Eberhard Fuchs wird da allerdings unruhig. Bei schweren Erkrankungen durch seelische Belastung könne er sich pharmakologische Hilfe zwar vorstellen. »Aber eine Pille gegen den täglichen Stress?«, fragt er und schüttelt den Kopf. »Nein, das finde ich heikel.«
    Psychiater Perera reagiert ebenso skeptisch. Ein Medikament allein könne die Lösung doch wohl nicht sein. »Ich will den Leuten helfen, ihre Gewohnheiten zu verändern«, erklärt er. »Alkohol, Schlafentzug und Zigaretten schaden dem Hirn.« Stattdessen sollten seine Patienten sich selbst in Bewegung setzen, fährt er fort: »Körperliche Aktivität ist eine großartige Medizin gegen Stress.«
    Jungbrunnen im Kopf
    Dieser Rat, den immer mehr Ärzte aussprechen, geht zurück auf ein Experiment, das mehr durch einen Zufall zustande kam. In La Jolla, Kalifornien, war eine kleine Biotech-Firma pleitegegangen. Zur Konkursmasse gehörten 19  Monate alte Versuchsmäuse (sie entsprechen 60  Jahre alten Menschen), die ihr ganzes Leben lang in Käfigen gehalten worden waren. Die Neurowissenschaftlerin Henriette van Praag vom benachbarten Salk Institute hörte davon und nahm die abgestumpften Tiere dankend an – sie erschienen ihr ideal, um zu verstehen, wie Bewegung auf die gestressten Gehirne älterer Individuen einwirkt.
    Sogleich verschrieb sie einer Hälfte der Mäuse ein Fitnessprogramm: Sie absolvierten jeden Tag fünf bis sechs Kilometer auf dem Laufrad. Die restlichen Tiere mussten zunächst weiterhin in engen Käfigen vegetieren. Nach 35  Tagen traten alle zu einem Wettstreit an, bei dem sie lernen mussten, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden.
    Das Ergebnis offenbart einen klaren Vorsprung durch Bewegung: Die Rennmäuse meisterten den Lerntest doppelt so schnell wie ihre trägen Artgenossen. Die anschließende Untersuchung zeigte, woher dieser Unterschied kam: Die Ertüchtigung hatte bestimmte Gene in Nervenzellen eingeschaltet; im Hippocampus der

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