Genesis Secret
Erkenntnissen zufolge hatten israelitische Mütter und Väter in früher Zeit ihre erstgeborenen Kinder in diese Schlucht vor den Toren Jerusalems gebracht und ihre schreienden Babys in den hohlen Bauch einer riesigen Bronzestatue gelegt, die dem kanaanitischen Gottdämon Moloch geweiht war. Die Bronzeschale in der Mitte der riesigen Figur diente als Grill. Sobald die Babys in der Bronzeschale waren, wurde unter der Statue ein Feuer entzündet, sodass die Kinder zu Tode geröstet wurden. Um die Schreie der Kinder zu übertönen, schlugen Priester riesige Trommeln, damit den Müttern die Qual erspart wurde, mit anhören zu müssen, wie ihre Kinder bei lebendigem Leib verbrannten.
Forrester lehnte sich zurück. Sein Herz klopfte wie die Trommeln beim israelitischen Opferritual. Wie konnte jemand so etwas tun? Wie konnte jemand seine leiblichen Kinder opfern?
Automatisch dachte Forrester an seine eigenen Kinder, an seine Tochter, seine tote Tochter. Die Erstgeborene der Familie.
Er rieb sich die Augen und scrollte durch ein paar weitere Seiten.
Wie es schien, war die Opferung des Erstgeborenen bei den Menschen der Frühgeschichte weitverbreitet. Zahlreiche Völker - Kelten, Maya, Goten, Wikinger, Normannen, Hindus, Sumerer, Skythen, Indianer, Inka und viele andere - opferten Menschen, und viele von ihnen opferten das erste Kind. Oft geschah dies in Form eines sogenannten »Grundstein-Opfers«: Bevor mit dem Bau eines heiligen oder strategisch wichtigen Gebäudes begonnen wurde, opferte die Gemeinschaft ein Kind, in der Regel ein Erstgeborenes, und begrub die Leiche unter dem Eingang des Bauwerks.
Forrester atmete ein und wieder aus. Er klickte einen anderen Link an. Der Himmel vor dem Fenster war strahlend, das Sonnenlicht des späten Frühlings. Doch der DCI war so in seine makabre Beschäftigung vertieft, dass er nichts davon mitbekam.
Besonders blutig waren die aztekischen Opferungen. Homosexuelle wurden rituell getötet, indem man ihnen durch das Rektum die Gedärme herauszog. Feindlichen Kriegern wurde von Priestern, deren Köpfe mit den Innereien der vorangegangenen Opfer beschmiert waren, das noch schlagende Herz aus der Brust gerissen.
Er las weiter. Und weiter. Angeblich war die Chinesische Mauer auf Tausenden von Leichen errichtet worden: weitere Grundsteinopfer. In Japan wurde ein Hitobashira - ein menschlicher Pfeiler - verehrt, unter dem Jungfrauen lebend begraben wurden. Bei den Maya Mexikos ertränkte man junge Mädchen und Kinder in riesigen »Cenotes«, natürlichen Wasserzisternen. Und das war noch keineswegs alles. Die Kelten der prärömischen Zeit stachen einem Opfer ein Messer ins Herz und sagten dann anhand seiner Todeszuckungen die Zukunft voraus. Die Phönizier töteten zur Sühne Tausende von Babys und begruben sie in »Tofets«, riesigen Kinderfriedhöfen.
Und so weiter und so weiter. Forrester setzte sich zurück. Ihm war übel. Doch er hatte auch das Gefühl, voranzukommen. Der Ritualmord auf der Isle of Man und der Mordversuch in der Craven Street hatten Opfercharakter gehabt, nicht zuletzt weil die Mörder jeweils einen Schauplatz gewählt hatten, an dem historisch belegbar bereits Menschenopfer erbracht worden waren. Doch was war das verbindende Element?
Er holte tief Luft, als wollte er in einen sehr kalten Teich springen, und googelte »Davidstern«.
Nachdem er sich vierzig Minuten durch die jüdische Geschichte gekämpft hatte, wurde er fündig: auf einer höchst dubiosen amerikanischen Website, wahrscheinlich eine Satanistenseite. Aber es war schließlich das Abnorme, womit Forrester hier zu tun hatte. Auf dieser Website erfuhr er, dass der Davidstern auch als Salomonstern bekannt war, weil ihn der alte jüdische König angeblich als sein magisches Emblem benutzt hatte. Wegen seiner okkulten Assoziationen wurde das Symbol von einigen hochrangigen modernen Rabbinern abgelehnt. Salomon, hieß es, hatte den Stern an dem Tempel anbringen lassen, den er Moloch, dem kanaanitischen Dämon, errichtet hatte, um ihm darin Tiere und Menschen zu opfern.
Forrester las die Internetseite noch einmal. Und noch einmal. Und ein viertes Mal. Es war nicht der Davidstern, den die Mörder ihren Opfern einritzten. Sie ritzten ihnen den Salomonstern ein. Ein Symbol, das mit Menschenopfern in Zusammenhang stand.
Und das Scheren des Kopfs?
Das zu googeln dauerte nur drei Minuten.
In vielen Kulturen wurden die zur Opferung bestimmten Menschen den unterschiedlichsten Reinigungsritualen unterzogen.
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