Geopfert - [Gus Dury ; 1]

Zeuge in der Nähe war. Aber ich verwarf die Idee. Sie musste gehen, das wusste ich.
    »Ich habe dir das alles nicht erzählt, um dich da mit hineinzuziehen. Ich wollte dir erklären, warum ich nämlich –«
    »Oh, jetzt kommt’s.« Sie warf ihren Kopf zurück. Ein Beben winziger Wellen breitete sich auf ihrem Milchshake aus.
    »Nein, so ist das nicht.«
    »Ach, nein?«
    »Was ich dir zu sagen versuche, ist doch, wenn du in meiner Nähe bleibst, könntest du in Gefahr geraten. Vielleicht nicht so sehr wie ich, aber es könnte Probleme geben.«
    Sie stand auf. »Du Mistkerl.«
    »’tschuldigung?«
    Wie ich sie nun anschaute, wurde mir klar, was mich an ihrem Äußeren störte. Sie hatte ein neues Piercing über der Lippe, auf der rechten Seite.
    »Du hast ein Piercing?«
    »Ach, dann ist es dir also aufgefallen.«
    »Ja. Ist es. Hör zu, Amy, setz dich wieder hin.«
    Sie beruhigte sich ein wenig. »Es ist ein Monroe.«
    »Was soll das sein?«
    »Marilyn Monroe.« Amy deutete auf das glänzende Stück Silber über ihrer Lippe. »Sie hatte so was wie, also, einen Schönheitsfleck oder so, ungefähr hier.«
    Mir gefiel die Vorstellung. »Nett – ich bin schon auf sämtlichen schönen Flecken gewesen, weißt du.«
    Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Ich glaube, auf einem noch nicht!«

I ch verfrachtete Amy in ein Taxi. Im Moment sah alles viel zu vertrackt aus, um sie in der Nähe zu haben. Aber irgendwas sagte mir, dass sie nicht einfach verschwinden würde.
    Der Gedanke, sie in Gefahr zu bringen, war eins der Millionen Dinge, die mir im Moment durch den Kopf schwirrten. Nichts davon war besonders nett. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf der Innenseite meiner Wange herumkaute, während ich weiterging. Der Schmerz zwickte meine Nerven. ›Himmel, was tut das momentan nicht‹, dachte ich.
    Ich sprang in den ersten Bus, der kam.
    Irgendwer hörte auf seinem iPod Sting. Ich persönlich, also ich bin ganz der Meinung von Ozzy Osbourne, der mal sagte, ganz egal, wie trostlos es ist, »es könnte alles noch viel schlimmer kommen, du könntest Sting sein«.
    Ich ließ mir das zum Soundtrack von Fields of Gold eine Weile durch den Kopf gehen. Mein Gott, ich hätte kotzen können, als die Nummer anfing. So ist das mit Sting. Für mich ist das dieser ganze »Rettet die Erde«-Schwachsinn. Der zieht mit so einem Knaben aus dem Regenwald durch die Fernsehshows, während er gleichzeitig für Concorde und Jaguar die Werbetrommel rührt. Um Himmels willen, ein Jag hat zwei Tanks! Ja, sieht er denn den Widerspruch nicht?
    In der Princes Street stieg ich aus und geriet sofort in den Sog der Zombies auf Einkaufsbummel. Ließ mich einfach treiben. Meine Beine schienen mit dem kollektiven Rhythmus zu verschmelzen, und schon bald lief ich Fitz the Crime in die Arme.
    »Heilige Sch… ich dachte, wir beide hätten uns alles gesagt, was es zu sagen gab«, schimpfte er, als er von der Montgomery Street auf den Walk einbog.
    »So sind wir aber nicht auseinandergegangen, Fitz.«
    »Hören Sie, Dury …«
    Ich fiel ihm ins Wort, baute mich ganz dicht vor ihm auf. »Nein, Fitz, Sie hören jetzt mir zu. Ich mach hier keinen Scheiß, haben Sie verstanden?«
    Schweigen.
    Ich fing noch mal an. »Ich habe Ihnen einmal geholfen, und jetzt werden Sie sich revanchieren.«
    »Andernfalls – läuft es so?«
    »Also …« Ich behielt meinen drohenden Tonfall bei.
    »Man verärgert mich nicht, Dury.«
    »Mich auch nicht.« Ich ließ das einsickern, ging noch näher an ihn ran. »Ich will die Akte über Billy-Boy.«
    »Sind Sie völlig verrückt geworden? Höre ich das überhaupt, was Sie da sagen?« Fitz versuchte sich an mir vorbeizuschieben, doch ich war zu schnell für ihn und versperrte ihm den Weg.
    »Ich werde nicht noch einmal darum bitten, Fitz. Die Akte über Billy.«
    »Dury, Sie sind verrückt. Jesus! Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was die Konsequenzen betrifft.«
    »Montag, Fitz.«
    Er loderte wie ein Freudenfeuer, sein fleischiger Hals bebte, als er den Kopf senkte und einfach durch mich hindurchging.
    Ich beschloss, einige Tage im West End zu verbringen. Dachte, das müsste so ziemlich der letzte Ort sein, an dem mich jemand suchen würde.
    Oft komme ich ja nicht hierher, aber ich fand ein Bed & Breakfast. Die Preise waren haarsträubend, aber es wurde dunkel, und ich musste mich eine Weile hinlegen. Schaffte es sogar, die Finger vom Stoff zu lassen. Hielt mich an Bob Dylans Ratschlag: »Alkohol tötet alles, was lebt, und bewahrt