Geopfert - [Gus Dury ; 1]
denen doch am Arsch vorbei.« Er deutete mit einem knotigen Daumen über seine Schulter. »Dieser Stalin ist ein gerissenes Schlitzohr.«
»Stalin?«
»So nenn ich den – der Kerl, der hier das Sagen hat, der ist griesgrämig wie nur was. Der und der ganze Rest. Rund um die Uhr gehen hier Rabauken ein und aus. Trotzdem, ich schätze mal, besonders lang werden die mich hier nicht mehr haben.«
»Ziehen Sie weg?«
Ein Lachen wie ein Dröhnen. Das in einen trockenen Husten überging, woraufhin er sich die Augen wischen musste. »Ich bin siebenundachtzig, Junge, mein nächster Umzug wird mein letzter sein.«
Ich lächelte, bekam ein Flattern im Bauch, als er mich Junge nannte. »Sie halten sich aber ganz gut für Ihr Alter, Milo.«
Er fing wieder an, lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Großer Gooott, das ist ja mal was. Sie sind ein furchtbarer Lügner, mein Freund.«
Ich war verlegen. Hitze stieg mir ins Gesicht. Ich hoffte, ich hatte ihn nicht gekränkt. Ich mochte den alten Knaben wirklich und sagte: »Aber man sagt doch: Alte Geigen spielen am besten.«
Seine Augen leuchteten. Ihr Blau war kalt wie Eis, aber dahinter sah ich, dass er immer noch ein junger Mann war. »Sie sind mir eine Nummer, Gus … Gus wie noch?«
»Dury.«
»Es war nett bei Ihnen, Gus Dury, aber ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten. Wollte nur kurz vorbeischauen und Hallo sagen.« Er stand auf, wozu er eine kleine Ewigkeit brauchte, und ging zur Tür. Ich ergriff die Türklinke und drückte sie für ihn auf. Er nickte freundlich. »Ich kannte mal einen Dury – einen Mann aus Kerry –, haben Sie zufällig Verwandte in Kerry?«
»Nein, tut mir leid.«
»Gut. War auch ein Scheißkerl durch und durch!«
Ich lachte laut und legte ganz leicht eine Hand auf Milos Rücken. »Auf ein andermal.«
Ich schaute ihm nach, wie er den Flur hinunterschlurfte und mit dem Schlüssel in seinem Schloss kämpfte. Es tat mir verdammt weh, das mit anzusehen, aber ich wusste, dass er viel zu stolz war, um meine Hilfe anzunehmen.
»Ich werde Tee besorgen«, rief ich ihm noch nach.
Er hob eine verkrüppelte Hand über seinen Kopf und winkte, dann verschwand er in seine einsame Welt.
Wieder allein, legte ich mich aufs Bett und begann nachzudenken. Das ist immer ein gefährliches Terrain für einen Alkoholiker. Fragte mich, ob ich wohl Milos Alter erreichen würde? Niemals. Dylan Thomas’ letzte Worte lauteten: »Achtzehn Whiskys, ich glaube, das ist der Rekord.« Er war neununddreißig, als er starb.
Ich überschlug kurz: Mir blieben noch drei Jahre, um Dylans besten Versuch zu schlagen.
So wie ich rangehe, dachte ich, werde ich wahrscheinlich nicht so lange brauchen.
A uszeit.
Ich lag auf dem Bett und ging meine Möglichkeiten durch. Lange brauchte ich nicht für meinen Countdown auf null. Ich verspürte den dringenden Wunsch nach Ablenkung. Ich wusste, durch meine Einwilligung, Col zu helfen, hatte ich mich in Gefahr begeben, einige alte Geister zu wecken, schaffte es aber irgendwie, das in meinem Kopf ganz nach hinten zu schieben. Ein Freund in schwierigen Zeiten und das alles – aber handelte ich denn wirklich selbstlos? Der Laienpsychologe in mir fragte laut: Gibt es da vielleicht ein paar Dämonen, denen du dich stellen musst, Gus Dury?
Blödsinn. Gäbe es Dämonen, würden die den Laden schmeißen.
Ich steckte mir eine Marlboro Red an, man kann nichts über den Ladentisch kaufen, was einer Crack-Pfeife näherkäme, ein echter Bluthuster. Ich lockerte die Schnürsenkel meiner Docs, schüttelte sie ab und ließ sie auf den Boden fallen. Auf der Brust balancierte ich einen schweren Rauchglas-Aschenbecher und schnipste immer wieder die Asche ab, die am Ende länger wurde.
Mein Gott, glaubte ich denn wirklich, eine echte Chance zu haben, den aufzuspüren, der Cols Jungen abgemurkst hatte? Ich versuchte es auszublenden, aber ein Zitat, von Wilde, glaube ich, ging mir immer wieder durch den Kopf: »Erfahrung ist der Name, mit dem jeder seine Dummheiten bezeichnet.«
Ich hatte jede Menge Erfahrung. Sie überrollte mich gerade wie eine Sturmflut.
Ich hatte einen Spitzenjob gehabt. Hatte die großen Storys bekommen. Hatte einen Namen gehabt.
»Wann schläft dieser Dury eigentlich?«, hatte ich den Herausgeber der Zeitung mal zum Chefredakteur sagen gehört. Mr. Bacon oder Speckschnitte, wie ich den Chef nannte, wirkte ziemlich unbeeindruckt – wie üblich. Aber mir machte das nichts, denn meinen Selbstzerstörungsschalter hatte ich
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