George, Elizabeth
brauchte einen
Schnaps. Aber sie riss sich zusammen und warf nicht einmal einen Blick in ihre
Handtasche, wo die Fläschchen wie schlafende Kindlein nebeneinanderlagen. Sie brauchte das Zeug nicht. Sie wollte es einfach nur. Etwas wollen
war nicht dasselbe wie etwas brauchen.
Sie stand am Fenster und
blickte gedankenverloren nach draußen, als es an ihrer Tür klopfte. Sie fuhr herum.
»Herein!«
Es war Lynley, der einen
großen Briefumschlag in der Hand hielt. »Es tut mir leid. Ich war vorhin ein
bisschen neben der Spur.«
Sie lachte kurz auf. »Da sind
Sie nicht der Einzige.«
»Trotzdem...«
»Ist schon gut, Thomas.«
Er schwieg einen Augenblick
und musterte sie. Er schlug den Briefumschlag in die Handfläche und überlegte,
wo er am besten ansetzen sollte. Schließlich sagte er: »John ist...«, aber er
zögerte immer noch. Ihm fehlten die passenden Worte.
»Ja, es ist schwer zu
beschreiben, nicht wahr? Den richtigen Begriff zu finden, mit dem sich John
Stewarts Wesen erfassen lässt.«
»Wahrscheinlich. Ich hätte ihn
nicht zurechtweisen sollen, Isabelle. Es war einfach ein Automatismus.«
»Wie gesagt, es spielt keine
Rolle.«
»Das hat nichts mit Ihnen zu
tun«, sagte Lynley. »Das sollen Sie wissen. John und Barbara liegen seit Jahren
im Clinch. Er hat Probleme mit Frauen. Seine Scheidung... Da hat er einen
Knacks bekommen. Er hat sich nicht wieder davon erholt und sieht nicht, dass er
selbst dazu beigetragen hat.«
»Was ist denn passiert?«
Lynley trat ein und schloss
die Tür hinter sich. »Seine Frau hatte eine Affäre.«
»Fragen Sie mich mal, ob mich das überrascht.«
»Sie hatte eine Affäre mit einer Frau.«
»Das kann ich ihr nicht
verdenken. Der Typ würde Eva dazu bringen, dass sie Adam für die Schlange
sitzen lässt.«
»Die beiden Frauen leben
zusammen, und sie haben das Sorgerecht für Johns Töchter.« Er musterte sie,
während er das sagte. Sie wandte sich ab.
»Ich habe kein Mitleid mit
ihm.«
»Das ist verständlich. Aber
manchmal ist es gut, solche Dinge zu wissen, und ich bezweifle, dass es in
seiner Akte steht.«
»Sie haben recht. Tut es
nicht. Glauben Sie, wir haben etwas gemeinsam, John Stewart und ich?«
»Bei Menschen, die einander
bekämpfen, ist das häufig der Fall.« Er wandte sich zur Tür. »Würden Sie mit
mir kommen, Isabelle? Sie müssten in Ihrem Wagen fahren, da ich nicht hierher
zurückkommen werde. Ich möchte Ihnen gern jemanden vorstellen.«
Sie runzelte die Stirn. »Was
hat das jetzt zu bedeuten?«
»Nicht viel eigentlich. Aber
da wir ohnehin Feierabend haben... Wir könnten anschließend etwas essen gehen,
wenn Sie möchten. Wenn man über einen Fall redet, kommt man manchmal auf
Dinge, die man vorher nicht bedacht hat. Streiten kann denselben Effekt haben.«
»Ist es das, was Sie wollen?
Streiten?«
»Es gibt doch zweifellos
Bereiche, in denen wir geteilter Meinung sind, nicht wahr? Kommen Sie mit.«
Isabelle sah sich in ihrem
Büro um. Warum eigentlich nicht?, dachte sie und nickte knapp. »Ich muss nur
noch ein paar Sachen zusammenpacken. Wir treffen uns dann unten.«
Nachdem er gegangen war,
nutzte sie die Zeit, kurz auf die Damentoilette zu gehen, wo sie sich im
Spiegel betrachtete und die Strapazen des Tages auf ihrem Gesicht ablas, vor
allem zwischen den Augen, wo sich eine tiefe Falte immer deutlicher eingrub.
Sie beschloss, ihr Make-up aufzufrischen, was ihr einen Vorwand verschaffte,
ihre Handtasche zu öffnen. Sie warf einen Blick auf ihre schlummernden
Schätzchen und wusste, sie würde nur einen Moment brauchen, um sich eines davon
zur Brust zu nehmen. Oder alle vier. Aber eisern klappte sie die Handtasche
wieder zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Kollegen.
Lynley verriet ihr nicht,
wohin sie fahren würden. Er nickte nur, als sie unten ankam, und sagte, er
werde sie im Rückspiegel im Auge behalten. Dann stieg er in den Healey Elliott
und fuhr mit Vollgas aus der Tiefgarage auf die Straße.
Er hielt sich in Richtung
Themse. Wie versprochen behielt er sie im Auge, was sich seltsam beruhigend auf
sie auswirkte. Sie hätte nicht sagen können, warum.
Da sie sich in London nicht
auskannte, hatte sie keine Ahnung, wohin die Fahrt ging, als sie der Themse in
südwestlicher Richtung folgten. Erst als sie rechter Hand in einiger Entfernung
die goldene Kugel auf dem Obelisken entdeckte, wurde ihr klar, dass sie sich in
Chelsea befanden und zum Royal Hospital kamen. Die ausgedehnten Rasenflächen
der Ranelagh Gardens waren von
Weitere Kostenlose Bücher