Georgette Heyer
jetzt zu bemerken, sie hob die Augenbrauen, so
hochmütig sie nur konnte, und sagte in eisigem Ton: «Sie sind sehr gütig, Sir!»
«Dummes
Ding!» sagte Dysart, nachsichtig lächelnd.
Ihre Augen
blitzten kriegerisch, doch Nell intervenierte eiligst, ehe sie Gelegenheit
fand, ihre Klinge neuerlich mit ihrem unverbesserlichen Quälgeist
zu kreuzen. «Du siehst wirklich bezaubernd aus», versicherte sie ihr und schob
sie gegen die Tür. «Ich komme mit dir und begleite dich an den Wagen. Glaubst
du, daß du nur mit diesem leichten Schal warm genug angezogen bist?»
«Nein, das glaube
ich nicht», erwiderte Letty aufrichtig, «aber es ist so schrecklich unelegant,
einen Umhang zu tragen.» Sie blieb in der Halle stehen, um ihre Handschuhe
überzustreifen, und sagte in düsterem Ton: «Ich möchte dich nicht kränken,
Nell, aber ich finde, Dysart ist der abscheulichste und unhöflichste Mensch,
der mir je begegnet ist!»
Nell
lachte. «Ja, wirklich! Das glaube ich dir gern. Weißt du, die Sache ist die:
weil du meine Schwägerin bist, meint er, auch du wärest seine Schwester.»
«Mein Bruder
hat gewiß viele Fehler, aber so würde er mich bestimmt nie behandeln!»
«Nein, denn
er ist viel älter als du. Hättest du einen Bruder in deinem Alter, dann wärest
du keine so alberne Gans, um dich von Dy ärgern zu lassen», sagte Nell
lächelnd.
«Ich bin
außerordentlich dankbar, daß ich keinen solchen Bruder habe, und kann dich nur
meines aufrichtigsten Mitgefühls versichern!»
«Danke!
Mein Bruder ist tatsächlich ein schwerer Fall», sagte Nell, und ihre Augen
tanzten vor Vergnügen. «Du unsinniges Geschöpf! Komm, sei vernünftig und fasse
nicht auch noch gegen mich eine Abneigung. Auf Wiedersehen. Und bitte, sag
deiner Tante alles das von mir, was sich gehört. Ich fürchte, sie könnte mir
die Schuld geben, daß du sie so vernachlässigst. Hoffentlich wird sie mir's
hoch anrechnen, daß ich dich ihr heute einen ganzen Tag überlasse.»
Sie sprach
leichthin, war jedoch sehr einsichtig, was Mrs. Thornes Ansprüche auf Lettys
Gesellschaft betraf. Cardross, der glaubte, Lettys Fehler seien der armen Dame
zuzuschreiben, mochte wohl wünschen, sie diesem Hause möglichst fernzuhalten,
doch Nell konnte es nie über sich bringen, diesen Wunsch zu unterstützen. Sie
hatte in Wirklichkeit mehr als einmal vorgeschlagen, Letty solle ihrer Tante
einen Vormittagsbesuch abstatten. Es wunderte sie keineswegs, daß Mrs. Thorne
fand, Letty vernachlässige sie, denn sie selbst dachte, Letty schenke einer
Frau beklagenswert wenig Beachtung, die schließlich Mutterstelle an ihr vertreten
hatte. Sie wäre in der Tat sehr überrascht gewesen, hätte sie gewußt, daß Mrs.
Thorne, weit entfernt davon, ihre Nichte an diesem Vormittag zu
einem Besuch zu erwarten, nicht die blasseste Ahnung von dieser ihr vorgeblich
zugedachten Freude hatte, sondern sich mit ihrer Tochter Fanny auf einer
Inspektionstour durch die Seidenwarenhäuser befand.
Denn Letty
hatte sich nur mit Miss Selina Thorne verabredet. Sobald diese die Equipage vor
dem Haus vorfahren sah, kam sie mit allen An zeichen größter Überraschung und
Freude aus dem Salon herausgestürzt, um sie zu begrüßen. Sie flüsterte ihr,
während sie sie küßte, auf höchst theatralische Weise zu: «Nur keine Angst!
Alles in Ordnung!»
Wegen des
Dieners, der Letty die Haustür geöffnet hatte, sagte sie noch: «Wie glücklich
bin ich, daß ich nicht mit Mama und Fanny mitgegangen bin. Komm nach oben,
Liebling, ich muß dir schrecklich viel erzählen.»
Sie war ein
sehr hübsches Mädchen, ein wenig jünger als Letty, aber bedeutend größer. Neben
ihrer zierlichen Cousine sah sie etwas zu kräftig, ja
sogar ein wenig plump aus, was sie aber keineswegs übelnahm.
Sie war
ebenso gutmütig wie ihre Mutter, hielt sich für ungemein sensibel und war so
romantisch veranlagt, daß sie dazu neigte, das wirkliche Leben
für jämmerlich öde zu halten, und sich einbildete, sie hätte sich in
einem Milieu wie dem der Romane der Mrs. Radclyffe bei weitem besser zu Hause
gefühlt. Nachdem sie Letty in den Salon geschleppt hatte, schloß
sie die Tür und sagte in Verschwörerton: «Mein süßestes Herz, welch
einen Morgen habe ich erlebt! Ich dachte, alles wäre völlig verloren, denn Mama
befahl mir fast, mit ihr zu kommen. Ich sah mich gezwungen,
zu einer Ausflucht zu greifen: ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen,
und so ging das schließlich auch noch glücklich vorbei, obwohl ich
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