Georgette Heyer
Höhepunkt in
einem Anfall nervenzerrüttender Hysterie erreichen. Sie wußte, daß es zwecklos
war, mit Tiffany vernünftig zu reden. Sie drängte sie also in den Salon, den
Lindeth für den Tag gemietet hatte. Dort ließ sie sie allein und schützte vor, Hirschhornsalz
besorgen zu wollen. Tiffany hatte bereits in einer unheilverkündenden
stürmischen Art zu weinen begonnen, aber Miss Trent glaubte nicht, daß ein
Anfall von Hysterie bevorstehe, da niemand da war, der erschrecken oder sich
Sorgen machen konnte. Natürlich war sie durchaus fähig, etwas Fürchterliches
anzustellen, wenn sie sich in einen ihrer Anfälle verrannt hatte.
Nach
raschem überdenken der Umstände kam Miss Trent zu dem Schluß, daß Tiffany als
letzten Ausweg dem Kutscher ihrer Tante befehlen könnte, die Pferde anzuspannen
und sie sofort nach Staples zu fahren. Wenn aber John sich weigerte, ihrem
Befehl zu gehorchen – was er sicherlich tun würde –, blieb Tiffany nichts
anderes übrig, als die Porzellannippes, die auf dem Kamin standen, zu zertrümmern.
Da Miss
Trent die Dinge in so drastischem Licht sah, war sie viel besorgter, als sie
Tiffany vermuten ließ. Einerseits hatte sie dieser unversöhnlichen jungen Dame
gegenüber Verpflichtungen, die bei aller Phantasie Besuche in den elenden Slums
der Stadt nicht einschlossen, andererseits hatte Mrs. Chartley ihrer Tochter
die Einkaufstour erlaubt, in
der Gewißheit, daß sie behütet werden würde. Weder sie noch Miss Trent konnten
natürlich den Unfall voraussehen, der diese doppelte Behütung so schwierig
gestaltete. Aber daß Mrs. Chartley es äußerst tadelnswert von Miss Trent fände,
Patience der alleinigen Begleitung und dem alleinigen Schutz von Lord Lindeth
zu überlassen, das stand (nach Miss Trents Meinung) außer Zweifel. Irgendwie
mußte sie die beiden in Konflikt geratenen Pflichten versöhnen. Aber was immer
sie in Erwägung zog, sie konnte zu keiner besseren Lösung gelangen, als Sir
Waldos Hilfe anzurufen – wie Lindeth vorgeschlagen hatte. Wenn er dazu gebracht
werden könnte, Tiffany Gesellschaft zu leisten, bis Patiences Protégé bei
seinen Eltern abgeliefert war, konnte die unselige Episode noch glücklich
enden.
Miss Trent
wollte also nicht Hirschhornsalz besorgen, sondern den Weg zum Krankenhaus
einschlagen, wo Lindeth in aller Eile seinen Cousin ausfindig machen sollte.
Es begab
sich aber, daß Sir Waldo das King's Arms betrat, gerade als sie das Haus
verlassen wollte. Nie war ihre Dankbarkeit oder Erleichterung größer gewesen.
«Wie
glücklich bin ich, Sie zu sehen!» rief sie aus. «Sir Waldo, Sie sind der
einzige Mensch, der mir aus dieser Klemme helfen kann, und ich bitte Sie sehr
darum, mir zu helfen.»
«Sie können
sich auf mich verlassen», sagte er erstaunt, aber ruhig. «In welche Klemme sind
Sie geraten, und was kann ich tun, um Sie zu befreien?»
Sie lachte
ungezwungen. «O du meine Güte! Ich muß Ihnen recht fassungslos erscheinen.
Nicht ich bin es, die in der Klemme sitzt, sondern ...»
«Einen
Augenblick», unterbrach er sie. «Wissen Sie, daß Blut auf Ihrem Kleid ist?»
Sie warf
einen flüchtigen Blick auf ihr Kleid. «Wirklich – ja, aber das ist nicht
wichtig.»
«Nun, da
Sie keine Verletzung haben, glaube ich Ihnen. Wessen Blut ist es?»
«Ich weiß
nicht – das heißt, ich weiß nicht, wie er heißt – ein kleiner Junge – ich muß
Ihnen erzählen, was alles geschehen ist!»
«Tun Sie
das!» forderte er sie auf.
Sie
berichtete das Ereignis so kurz es ging, machte aber kein Hehl daraus, daß es
nicht der Unfall war, der ihr zu schaffen machte, sondern Tiffanys
widerspenstiges Benehmen. «Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, daß sie in einem
solchen Augenblick einen Wutanfall bekommt – aber Sie kennen sie!»
«Natürlich
kenne ich sie. Genau das habe ich von ihr erwartet. Wie könnte es anders sein,
wenn ihr die Rolle der Heldin in diesem aufregenden Drama weggeschnappt wurde
und sie nur Zuschauerin ist! Wo befindet sie sich jetzt?»
«Oben im
Salon, wo wir den Lunch hatten. Ja, natürlich war das der Grund, und ich weiß
nicht, was sie mehr empörte: daß Ihr Cousin sie nicht beachtete oder daß der
sonderbare Mr. Baldock sagte, er verstehe nicht, warum sie ohnmächtig
werden sollte. Ja, Sie haben leicht lachen! Ich gestehe, ich würde es
auch sehr komisch finden, wenn es mich nichts anginge. Sehen Sie jetzt die
Klemme, in der ich zapple? Weder kann ich Tiffany hier – weiß Gott wie lange –
allein lassen, noch
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