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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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eigene Leben zu gestalten, so ist die Regierung legitim.
    Wenn eine Regierung also klar anstrebt, die Würde ihrer Bürger in vollem Maße anzuerkennen, kann sie selbst dann legitim sein, wenn sie im Irrtum darüber ist, was das erfordert. Eine entsprechende Bewertung erfordert also ein eigenes interpretatives Urteil, das oft sehr schwer zu fällen ist. Ist eine bestimmte Ungerechtigkeit besser mit einem ungenügenden Ver
546 ständnis dessen, was die gleiche Berücksichtigung und Achtung aller erfordern, zu erklären oder schlicht mit der Leugnung dieser Verantwortung? Nackte Tyranneien, wie sie etwa Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus oder Stalins Sowjetunion darstellten, gehören natürlich zur zweiten Kategorie, aber Staaten, die weniger offensichtlich ungerecht sind, sind schwerer einzustufen. Ein interpretatives Urteil muß historische und lokale Bedingungen mit in Betracht ziehen, also auch die in einer politischen Gemeinschaft vorherrschenden Ideen. In Zeiten, in denen fast universell akzeptiert wurde, daß das Schicksal eines jeden am besten geschützt und man der Würde aller am besten gerecht wird, wenn alle von fürstlichen oder kirchlichen Vertretern Gottes regiert werden oder wenn eine Staatsreligion etabliert wird, konnte man überzeugender für die Legitimität solcher echten Monarchien oder Theokratien argumentieren als heute. Außerdem muß ein interpretatives Urteil immer das ganze Spektrum der Gesetze und Praktiken einer Regierung berücksichtigen. Arbeitet jene Monarchie wirklich zum Wohle aller, die sie zu vertreten beansprucht, oder nur für eine privilegierte Gruppe oder um ihre Machtposition zu erhalten und auszubauen? Beschränkt sich eine Theokratie auf den Versuch, Dissidenten durch reine Überredung zu konvertieren? Es kann sein, daß die Beteuerungen einer Regierung, alle gleichermaßen zu berücksichtigen, nicht zu rechtfertigen sind, ohne die von ihr verteidigten politischen Maßnahmen in einen größeren Kontext einzubetten.
    Gerechtigkeit ist natürlich stets eine Frage des Grades. Kein Staat ist vollkommen gerecht, aber manche erfüllen die meisten der von mir im fünften Teil dieses Buches zu diskutierenden Bedingungen im großen und ganzen. Ist Legitimität ebenfalls eine Frage des Grades? Ja. Es ist manchmal unmöglich, bestimmte Gesetze oder Regelungen mit einer Auffassung dessen zusammenzubringen, was der Schutz der Würde aller erfordert, die im Rahmen eines ernstgemeinten Versuchs der betref
547 fenden Regierung, diese Frage interpretativ zu beantworten, ausgearbeitet wurde. Ein Staat kann einerseits eine fest etablierte Demokratie sein, Rede- und Pressefreiheit garantieren, die Vereinbarkeit neuer Gesetze mit der Verfassung richterlich überprüfen lassen und für einen adäquaten polizeilichen Schutz sowie ein Wirtschaftssystem sorgen, das es den meisten Bürgern erlaubt, ihre Leben selbst zu gestalten und verhältnismäßig erfolgreich zu führen, während aber zugleich politische Regelungen angestrebt werden, die ganz klar gegen die Prinzipien verstoßen, die jener allgemeinen Ordnung zugrunde liegen. Zum Beispiel könnte eine bestimmte entweder über ethnische Zugehörigkeit oder ökonomische Stellung definierte Gruppe von den Vorteilen ausgeschlossen sein, die andere im Rahmen dieser Regelung zugesprochen bekommen. Ein Staat könnte auch im Rahmen falsch diagnostizierter Notsituationen, um einen kulturellen Imperativ durchzusetzen – etwa um die Sexualmoral der Gemeinschaft zu verbessern –, Zwangsgesetze erlassen, die eine Bedrohung der Freiheit der Bürger darstellen. Solche politischen Maßnahmen können die Legitimität eines Staates beeinträchtigen, ohne sie vollkommen zu zerstören, und damit handelt es sich um eine Frage des Grades: Wie breitflächig ist jene Beeinträchtigung und wie schwerwiegend? Wenn sie sehr begrenzt ist und es politische Verfahren zur Kurskorrektur gibt, können Bürger ihre Würde bewahren und es vermeiden, selbst Tyrannen zu werden, indem sie sich soweit wie möglich weigern, an den Ungerechtigkeiten teilzunehmen, und versuchen, sie auf politischem Wege zu beseitigen sowie, wo angemessen, durch zivilen Ungehorsam in Frage zu stellen. Der Staat bleibt in einem nicht unerheblichen Maße legitim, und auch die politische Verpflichtung der Bürger bleibt bestehen. Wenn es aber zu sehr schweren und breitflächigen Beeinträchtigungen kommt, die vor einer Korrektur mit politischen Mitteln geschützt sind, verschwindet die

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