Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Respekt behandelt werden. Dieser Ansatz betont die grundlegende Unterscheidung zwischen Personen (denen eine bestimmte Würde zukommt) und bloßen Objekten oder Dingen (die einfach benutzt werden dürfen). Der bedeutendste Verfechter dieses Ansatzes ist Immanuel Kant, dem wir uns im nachfolgenden Kapitel zuwenden werden.
Eine weitere Annäherung an höhere Normen beginnt bei der Vorstellung, dass die richtige Art, Güter und soziale Handlungsweisen zu bewerten, von den Zwecken und Zielen abhängt, denen sie dienen. Erinnern wir uns: In ihrem Widerstand gegen Leihmutterschaft bringt Anderson vor, dass die gesellschaftliche Praxis der Schwangerschaft zu Recht ein bestimmtes Ziel fördert, nämlich eine emotionale Bindung der Mutter zu ihrem Kind. Ein Vertrag, der von der Mutter fordert, keine solche Bindung herzustellen, ist abwertend, weil er sie von diesem Ziel ablöst. Dadurch wird eine »Norm der Elternschaft« durch eine »ökonomische Norm« ersetzt.
Die Vorstellung, man könne die für soziale Handlungsweisen angemessenen Normen ausfindig machen, indem man sich das spezifische Ziel bzw. den Zweck dieses Handelns vor Augen führt, steht im Zentrum der aristotelischen Theorie der Gerechtigkeit. Diesen Ansatz werden wir in einem der späteren Kapitel untersuchen.
Solange wir diese Theorien der Moral und der Gerechtigkeit nicht untersuchen, können wir nicht wirklich feststellen, welche Güter und sozialen Handlungsweisen von Märkten gelenkt werden sollten. Doch die Debatte über Leihmutterschaft vermittelt uns ebenso wie der Streit um die Freiwilligenarmee einen Blick dafür, was auf dem Spiel steht.
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Es kommt auf den Beweggrund an
IMMANUEL KANT
Wer an universelle Menschenrechte glaubt, ist wahrscheinlich kein Utilitarist. Wenn alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft oder Heimat zu respektieren sind, dann ist es falsch, sie für das kollektive Glück zu instrumentalisieren. (Denken wir an die Geschichte des unterernährten Kindes, das um der »Stadt des Glücks« willen im Keller schmachtet.)
Man könnte die Menschenrechte mit dem Argument verteidigen, dass sie langfristig den Nutzen mehren. In diesem Fall respektieren wir sie jedoch nicht, weil wir die Person achten, die sie besitzt, sondern weil die Verhältnisse für alle besser werden sollen. Es ist eine Sache, das Szenario mit dem leidenden Kind zu verurteilen, weil es den allgemeinen Nutzen mindert; es als immanent moralisches Unrecht – als Ungerechtigkeit gegenüber dem Kind – zu verurteilen, ist etwas anderes.
Falls Rechte nicht auf dem Nutzen beruhen: Was ist dann ihre moralische Grundlage? Libertarianer bieten eine mögliche Antwort an: Menschen sollten nicht bloß als Mittel für das Wohlergehen anderer benutzt werden, weil dadurch das Grundrecht auf Selbsteigentum verletzt würde. Mein Leben, meine Arbeit und meine Person gehören mir und sonst niemandem. Die Gesellschaft hat keinerlei Anspruch darauf.
In letzter Konsequenz führt das allerdings zu Konstellationen, die wohl nur hartgesottene Libertarianer verteidigen würden: einen ungeregelten Markt ohne Sicherheitsnetz für die Gestrandeten und dazu einen minimalen Staat, der darauf verzichtet, die Ungleichheit zu mildern und das Gemeinwohl zu fördern. Zudem wird hier das gegenseitige Einverständnis so hoch bewertet, dass selbstgewählte Verstöße gegen die menschliche Würde wie etwa einvernehmlicher Kannibalismus oder der Verkauf seiner selbst in die Sklaverei erlaubt sind.
Sogar John Locke (1632–1704), der große Theoretiker der Eigentumsrechte und der eingeschränkten Regierungsgewalt, hält nicht an einem unbegrenzten Recht auf Selbsteigentum fest. Er lehnt die Vorstellung ab, wir dürften über unser Leben und unsere Freiheit nach Belieben verfügen. Doch Lockes Theorie der unveräußerlichen Rechte bezieht Gott mit ein, was für diejenigen ein Problem darstellt, die eine nicht auf religiösen Annahmen beruhende moralische Basis für die Menschenrechte suchen.
Kants Begründung der Rechte
Immanuel Kant (1724–1804) bietet eine alternative Erklärung für unsere Rechte und Pflichten an – eine der stärksten und einflussreichsten Erklärungen, die je von einem Philosophen vorgebracht worden sind. Sie hängt nicht von der Vorstellung ab, wir besäßen uns selbst, oder von der Behauptung, unser Leben und unsere Freiheit seien eine Gabe Gottes. Vielmehr fußt sie auf der Überzeugung, dass wir als vernünftige Wesen Würde und Respekt verdienen.
Kant wurde 1724 im
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