Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
einzumischen.
Doch die Begründung für eine Zulassung der Sterbehilfe muss nicht zwangsläufig auf der Vorstellung beruhen, dass wir uns selbst besitzen oder dass unser Leben uns gehört. Viele Befürworter der Sterbehilfe berufen sich nicht auf Eigentumsrechte, sondern argumentieren im Namen von Würde und Mitleid. Sie sagen, unheilbar Kranke im Endstadium, die sehr leiden, sollten in der Lage sein, ihren Tod schneller herbeizuführen, anstatt mit quälenden Schmerzen weiterleben zu müssen. Selbst wer glaubt, wir hätten eine generelle Pflicht, menschliches Leben zu erhalten, dürfte zu dem Schluss kommen, dass in bestimmten Fällen das Mitleid schwerer wiegen kann als die Pflicht zum Weitermachen.
Bei Patienten im Endstadium ist die libertarianische Begründung für Sterbehilfe schwer von der aus dem Mitleid hervorgehenden Begründung zu trennen. Um einschätzen zu können, welche moralische Stärke der Vorstellung des Selbsteigentums innewohnt, sehen wir uns einen Fall von Suizidhilfe an, bei dem es nicht um Kranke im Endstadium geht. Zugegeben, der Fall ist drastisch. Doch genau das erlaubt es uns, die libertarianische Logik – unberührt von Gedanken an Würde und Mitleid – auf die Probe zu stellen.
Einvernehmlicher Kannibalismus
2001 kam es in der deutschen Gemeinde Rotenburg zu einem merkwürdigen Treffen. Bernd Jürgen Brandes, ein 43-jähriger Software-Ingenieur, hatte auf eine Internet-Anzeige geantwortet, in der jemand gesucht wurde, der bereit war, sich töten und verzehren zu lassen. Die Anzeige stammte von dem Computertechniker Armin Meiwes, 42 Jahre alt. Meiwes bot kein Geld an, sondern nur das Erlebnis selbst. Etwa 200 Personen reagierten auf die Anzeige. Vier besuchten Meiwes in seinem Bauernhaus für ein Gespräch und hatten schließlich kein Interesse mehr. Als aber Brandes zu Meiwes kam und dessen Vorschlag bei einem Kaffee erwog, willigte er ein. Anschließend tötete Meiwes seinen Gast, zerstückelte die Leiche und bewahrte die Teile in Plastikbeuteln in seiner Gefriertruhe auf. Als man den »Kannibalen von Rotenburg« festnahm, hatte er bereits mehr als 40 Pfund seines bereitwilligen Opfers verzehrt – einige Teile hatte er in Olivenöl mit Knoblauch zubereitet. 14
Als Meiwes vor Gericht gestellt wurde, faszinierte der schaurige Fall die Öffentlichkeit und brachte das Gericht in Verlegenheit. In Deutschland gibt es kein Gesetz gegen Kannibalismus. Der Täter könne nicht wegen Mordes verurteilt werden, behauptete die Verteidigung, weil das Opfer bereitwillig an seinem eigenen Tod mitgewirkt habe. Meiwes’ Anwalt argumentierte, sein Klient könne nur einer »Tötung auf Verlangen« schuldig sein – diese Form der Suizidbeihilfe wird mit einer Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren bestraft. Das Gericht entschied sich für den Mittelweg und verurteilte Meiwes wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Gefängnis. 15 Doch zwei Jahre später revidierte ein Berufungsgericht das Urteil und verurteilte Meiwes zu lebenslanger Haft. 1 6 Übrigens ist, in einer wahrhaft bizarren Wendung der Geschichte, der mörderische Kannibale Berichten zufolge in der Haft zum Vegetarier geworden – mit der Begründung, Massentierhaltung sei unmenschlich. 17
Einvernehmlicher Kannibalismus unter Erwachsenen ist wohl der ultimative Test für den libertarianischen Grundsatz des Selbsteigentums und der daraus folgenden Vorstellung von Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine extreme Form der Sterbehilfe. Da es dabei nicht darum geht, einen Patienten im Endstadium von seinen Schmerzen zu erlösen, ist diese Aktion allein mit der Begründung zu rechtfertigen, dass wir Eigentümer unseres Körpers und unseres Lebens sind und damit tun dürfen, was uns beliebt. Falls die libertarianische Behauptung zutrifft, ist es ungerecht, einvernehmlichen Kannibalismus zu verbieten – es wäre eine Einschränkung unserer Freiheit. Der Staat darf Armin Meiwes so gesehen ebenso wenig bestrafen, wie er Bill Gates und Michael Jordan besteuern darf, um den Armen zu helfen.
* Der englische Begriff »libertarian« wird im Deutschen uneinheitlich übersetzt. Zur Abgrenzung von anderen Bedeutungsnuancen wird im Folgenden das Wort »Libertarianer« bzw. das daraus abgeleitete Adjektiv »libertarianisch« verwendet. (H. R.)
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MÄRKTE UND MORAL
Viele der hitzigsten Debatten über Gerechtigkeit betreffen die Rolle der Märkte. Ist der freie Markt fair? Gibt es bestimmte Güter, die man für Geld nicht kaufen kann
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