German Angst
Befragung in einem strafrechtlich irrelevanten Fall durchführte. Das Einzige, was Ronfeld ihnen sagte, war, dass nach der Festnahme von Lucy Arano deren Vorgeschichte neu bewertet werden müsse und er sich persönlich ein Bild von den gewalttätigen Geschehnissen machen wolle. Offensichtlich genügten ihm die Protokolle nicht, die die Polizisten nach den jeweiligen Überfällen auf Grund von Zeugenaussagen angefertigt hatten. Eine Haltung, die dem Kriminaloberrat missfiel und die er in dieser Form noch nie erlebt hatte. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit dem Oberstaatsanwalt darüber zu sprechen. Auch Sonja Feyerabend fand Ronfelds Vorgehen merkwürdig und außerdem lästig, da sich dank ihm noch mehr Überstunden ansammelten. Insgesamt wollte er siebzehn Zeugen befragen und kein Gespräch dauerte weniger als eine Stunde.
Auf Sonjas Angebot hatte Luisa Kren nur kurz den Kopf gehoben, als habe sie von weit her eine undeutliche Stimme vernommen, dann versenkte sie sich wieder in den Anblick ihrer verkrampften Hände.
»Lucy Arano hat Sie ein zweites Mal geschlagen, obwohl Sie bereits schwer verletzt am Boden lagen«, wiederholte Niklas Ronfeld.
»Und sie hat das Messer hochgehalten«, sagte Frau Kren.
»Wie meinen Sie das: hochgehalten?«
»So, so hoch, so…« Schwerfällig hob sie den rechten Arm, der Ärmel ihres Kleides verrutschte ein Stück, und die beiden Juristen sahen den dürren, von dunklen Adern durchpflügten Unterarm. »Als… als wollt sie gleich auf mich einstechen. Ich hab gedacht, jetzt ersticht sie mich, sie hat mich so angeschaut und geschrien, ich soll ihr endlich Geld geben. Sie hat laut geschrien…«
»Ja«, sagte Ronfeld, »bitte nehmen Sie den Arm wieder runter!« Aber sie schien ihn nicht zu hören.
»Ich hab dann meine Hand in die Manteltasche gesteckt, unwillkürlich, ich hab ja gewusst, dass ich kein Geld dabei hab. Und da hab ich plötzlich ein Papier gespürt, in der Manteltasche, ein Papier, und ich hab sofort gewusst, dass das eine Rechnung war, die ich da vergessen hab, aus dem Supermarkt, und das Mädchen hat mich wieder angeschrien, sie schrie: ›Gib mir Geld, sonst bring ich dich um!‹«
»Haben Sie das genau gehört, Frau Kren?«, fragte nun Sebastian Fischer. Seine Anzughose war dem Anwalt zu eng, die Küche war ihm zu eng, die ganze Situation, alles war ihm zu eng. Und je mehr die alte Frau erzählte, desto unwohler fühlte er sich, desto eingeschnürter kam er sich vor, eingezwängt in die Vorstellung, Lucy nicht helfen zu können. Und schlimmer: sie nicht verstehen, nicht begreifen, ihre Motivation nicht nachempfinden zu können. Und er ertappte sich dabei, beim Anhören der Zeugen an etwas anderes zu denken, abzuschweifen und dann, nach Sekunden oder Minuten, innezuhalten und sich zu sagen: Ich steig aus, ich hab mich getäuscht, dieses Mädchen hat meinen Einsatz nicht verdient, ich bin kein Samariter, ich bin Anwalt, und wer weiß, ob mich der Vater am Ende überhaupt bezahlen kann. Doch dann war er jedes Mal froh, wenn jemand ihn in die Realität zurückholte.
»Sie haben es gehört, Herr Kollege, Frau Kren hat keinen Zweifel an dem, was Lucy Arano zu ihr gesagt hat.«
Überrascht sah Fischer den Staatsanwalt an und nickte. Die Antwort von Frau Kren hatte er tatsächlich überhört.
»Ja«, sagte er.
Im Gerichtssaal siezten sie sich und es war für beide selbstverständlich, diese Form der Anrede auch bei Vernehmungen beizubehalten. Es war das erste Mal, dass sie außerhalb des Justizpalastes oder eines Polizeidezernats Zeugen gemeinsam befragten, im Grunde inoffiziell und in einer der Grauzonen des Strafrechts, und schon deshalb fühlte sich Fischer wie in einem Schraubstock, in dem er immer weniger Luft bekam.
»Was ist dann passiert, Frau Kren?«, fragte Ronfeld.
»Dann hab ich das Papier aus der Tasche geholt und…
und es war ein Geldschein, zwanzig Mark! Ich hab nicht gewusst, wo die hergekommen sind, zwanzig Mark, und ich war so erleichtert, so erleichtert, und ich hab ihr das Geld hingehalten, aber sie hat es nicht genommen. Ich hab meinen Arm hochgehalten…« Wie vorhin reckte sie mühsam den rechten Arm, senkte ihn diesmal aber sofort wieder und atmete schwer. »Ich wollte, dass sie das Geld nimmt, aber sie hat mich nur angesehen mit diesem Blick, der mir durch Mark und Bein gegangen ist. ›Bitte‹, hab ich gesagt, ›bitte, nimm doch das Geld, ich hab eins gefunden, schau!‹ Und dann hat sie mir die zwanzig Mark aus der Hand
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