Gerron - Lewinsky, C: Gerron
können. Hat alle frommen Bücher gelesen und kann alle Gebete auswendig hersagen. Der hat mir von einem Talmudstudenten erzählt, der die Kabbala studieren will, nicht erst mit vierzig Jahren, wie es die Regel ist, sondern gleich jetzt sofort, und sein Lehrer sagt zu ihm: «Ich gebe dir die Erlaubnis, wenn du es ein einziges Mal fertigbringst, das Achtzehngebet zu sprechen, ohne dabei an etwas anderes zu denken.» Was er natürlich nicht schafft. Keiner schafft das. Die Hunde zerren zu heftig an der Leine.
«Wenn du es wirklich willst, kannst du es auch», hat Mama immer gesagt.
Schöne Gedanken. Glückliche Momente.
Einmal, da haben wir uns versteckt, Olga und ich. Wir hatten Besuch eingeladen, und Olga hatte das Essen gekocht, eigenhändig, weil sie fand, man ist kein richtiger Gastgeber, wenn man alles dem Personal überlässt. Wenn man nur sagt: «Lassen Sie sich etwas Delikates einfallen, ich gehe so lang zum Friseur.»
Ein Gulasch. Ich kann es noch riechen.
Das allerletzte Gulasch meines Lebens, das letzte richtige Gulasch, nicht den Eintopf, den wir in Amsterdam so nannten, obwohles schon lang kein Fleisch mehr gab, nicht auf die Karten mit dem J, das allerletzte Gulasch habe ich bei Otto Wallburg gegessen. Er wollte uns nicht verraten, wo er die Zutaten aufgetrieben hatte. Richtige Fleischstücke und …
Die Hunde nicht laufen lassen. Ich bestimme, was in meinem Kopf gedacht wird.
Wir erwarteten Gäste, es war alles vorbereitet, der Tisch gedeckt und der Wein entkorkt, und plötzlich wussten wir beide, dass wir gar keinen Besuch haben wollten. Dass wir allein sein wollten. Es waren anstrengende Wochen gewesen, es gab damals nur anstrengende Wochen, und es war völlig idiotisch von uns, an dem einzigen Abend, an dem ich nicht arbeiten musste, fremde Leute ins Haus zu bitten.
Wir haben nicht geöffnet, als es an der Tür klingelte. Haben uns nicht gerührt. Das einzige, was uns hätte verraten können, war der Duft nach Fleisch und Zwiebeln und Paprika, aber der konnte auch aus einer anderen Wohnung kommen. Unter den Tisch sind wir gekrochen, obwohl uns ja keiner sehen konnte. Als Kind habe ich mich so versteckt, habe mir das Tischtuch, das bis zum Boden hing, als die Wände eines Zeltes ausgedeutet, auf einer Expedition im Himalaja, oder als Schatzhöhle, wo sich Säcke voller Diamanten finden ließen und Kisten voller Perlen.
Wir haben die Arme umeinander gelegt. Ganz fest habe ich mich an Olga gepresst. Habe meinen Mund in ihr Haar gewühlt, um das Gelächter nicht ausbrechen zu lassen, das in mir rumorte. Wir haben die Welt geschwänzt, einen Abend lang. Als unsere Gäste am nächsten Tag anriefen, haben wir gesagt: «Gestern? Ihr wart gestern da? Aber wir sind doch für heute verabredet!» An diesem Heute konnten sie aber nicht, was mein Glück war. Weil ich ja wieder Vorstellung hatte und gar keinen Besuch hätte empfangen können.
Das ist eine gute Erinnerung. Olga und ich. Nur wir beide.
Wie haben das Gulasch aufgegessen, den ganzen Topf zu zweit, und Olga hat gesagt: «Du hast es gut, du kannst nicht dick werden, du bist es schon.»
Ich bin es immer noch, aber nur nach Theresienstädter Maßstab. Ein Drittel meines Körpers habe ich schon verloren.
Vielleicht wollen sie uns verhungern lassen. Das kostet nichts und macht keine Umstände. Magere Körper lassen sich auch leichter wegschaffen.
Die Hunde sind schon wieder los.
Dabei gibt es so viele schöne Erinnerungen. Gäbe es so viele schöne Erinnerungen.
Zum Beispiel …
Einmal …
Warum fällt mir jetzt nichts davon ein? Nicht eine einzige von den Zeiten, in denen es mir gutging?
Als kleiner Junge, ja, da natürlich. Wenn Großpapa mir Geschichten erzählte. Aber das gilt nicht. Solang er die Welt nicht kennt, kann jeder glücklich sein.
In Westerbork spielen die Kinder Transport . Nach Regeln, die immer gleich bleiben, auch wenn die Mitspieler wechseln. Weil ein neuer Zug angekommen ist und ein anderer abgefahren. Jedes Kind hat eine Streichholzschachtel, die muss man haben, wenn man mitmachen will, darin steckt ein Zettel mit seinem Namen. Die Schachteln kommen alle in einen Topf oder Hut, was gerade da ist, und einer ist der Kommandant und darf eine Zahl auswürfeln. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. So viele Schachteln holt er dann blind heraus, öffnet sie und liest die Namen vor. Wer gezogen wird, hat verloren und muss auf Transport . Was bedeutet, dass er an jeden Ort gehen muss, den der Kommandant sich ausdenkt.
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