Gerron - Lewinsky, C: Gerron
immer um Leben und Tod.
«Ich komme», sage ich. «Ich will nur meiner Frau eine Nachricht hinterlassen.»
Das versteht er. Zum Judenältesten gerufen zu werden, kann immer auch bedeuten, dass man zu Rahm gerufen wird. Von wo nicht jeder wiederkommt. Aber ich soll mich beeilen, sagt er.
«Laufen Sie schon voraus und sagen Sie Bescheid, dass ich unterwegs bin. Sonst wird Herr Eppstein ungeduldig.» Das macht ihm Angst. Ein ungeduldiger Eppstein könnte ein ärgerlicher Eppstein sein. Könnte sich einen anderen, schnelleren Kurier suchen. Ohne Stelle beim Ältestenrat ist man für Transporte nicht mehr gesperrt.
Er rennt los. Ich höre mit Befriedigung, dass er im Dunkeln bei der fehlenden Stufe stolpert.
Ich schreibe eine Nachricht ins Schulheft. Das habe ich mit Olga so vereinbart. Bin bei Eppstein schreibe ich und stelle mir vor, wie auch diese drei Worte mit roter Tinte korrigiert werden. Ein deutscher Satz ist erst perfekt mit Prädikat und mit Subjekt .
Man müsste sich das Gehirn ausspülen können, um all diese verrotteten Bildungsüberreste loszuwerden.
Was Eppstein von mir will? Kein schweres Rätsel. Meine Entscheidung will er hören. Will, dass ich ja sage. Es ist erst der zweite Tag, aber Rahm wird ungeduldig geworden sein. Als Herr über Leben und Tod ist man das Warten nicht gewohnt.
Was werde ich antworten? Als ob ich eine Wahl hätte. Man tut, was man tun muss.
Vielleicht kann ich Bedingungen stellen. Nicht bei Rahm, natürlich nicht, aber bei Eppstein. Besseres Essen oder …
Es kommt nicht darauf an, was ich herausschlagen kann, es geht um die Forderung an sich. Dolly Haas lässt sich in die Verträge schreiben, dass in ihrer Garderobe jeden Tag gelbe Rosen stehen müssen. Sie hat mir auch den Grund dafür erklärt. «Welche Farbe die Blumen haben, geht mir am Arsch vorbei», hat sie gesagt. Für ein so zartes Persönchen hat sie eine ganz schön deftige Ausdrucksweise. «Aber wer Bedingungen stellen kann, ist wichtig. Wer wichtig ist, wird nicht schlecht behandelt.»
Oder doch ein bisschen weniger schlecht. Ich werde von Eppstein verlangen …
Ah.
Allein schon das Gefühl, etwas fordern zu können, tut gut. Ich werde von Eppstein verlangen …
Es wird mir etwas einfallen.
Ich lege das Schulheft an seinen Platz zurück und mache mich auf den Weg.
«Bitte saubermachen», sagt Herr Turkavka.
Der Ältestenrat hat seine Büros in der Magdeburger Kaserne. Ich mache den Umweg rund um den Marktplatz. Ich gehe nicht gern an der Kommandantur vorbei.
Die Straßen sind voll. Wie immer. Es gibt zu viele Menschen hier. Das hat auch Rahm gedacht, als er für den Besuch des Roten Kreuzes die Stadt verschönern ließ. Hat einen ganzen Zug voller alter Leute nach Auschwitz geschickt. Aus ästhetischen Gründen.
Plötzlich, vor den Fassaden der Häuser, fällt mir mein Traum wieder ein.
Da war eine Stadt, nein, ein Dorf war es. Nicht irgendein Dorf, es war Poelcapelle, ja, wo unsere 8. Kompanie einquartiert war, damals, als wir Helden sein mussten, Kämpfer für das Vaterland. Ich kenne dort jeden Stein, jede Deckung vor verirrtem Geschützfeuer, ich habe nichts vergessen, und es war noch alles genau so. Es war alles ganz anders. Die vertrauten Ruinen der Häuser waren keine Ruinen mehr, der verkrüppelte Kirchturm hatte wieder seine Spitze, ein Storch nistete darauf, und am Amtsgebäude, wo der Regimentsstab residierte, war die Mauer nicht mehr eingestürzt. Das ganze Dorf sauber und intakt, herausgeputzt wie für den Frieden oder für eine Visite des Divisionskommandeurs. Vorhänge hinter den Fenstern, vor Sauberkeit knisternd wie Mamas Paradeblusen, wie der weiße Kragen auf einer Packung von Hoffmann’s Silber-Glanz-Stärke . Blumenkisten an den Fassaden, lauter perfekte Blüten, Narzissen, und als ich dachte: Die sind doch in Langemarck erstickt, da waren es Veilchen. Wie damals in Olgas Brautstrauß.
Musik. Da war auch Musik, achtlos auf den Weg gestreut. Eine Handvoll unscharfer Töne und noch eine und noch eine. Die Melodie nicht zu erkennen, aber trotzdem vertraut. Manchmal hört man Musik so. Wenn man an einem Haus vorbeigeht, in dem jemand übt. Oder bei Stummfilm-Drehs, wenn die Produktion Musikanten kommen lässt, um die Schauspieler in die richtige Stimmung zu versetzen. Mein Bruder macht beim Stummfilm die Geräusche.
Unter den Füßen nicht die vertraute Kampfbahn aus flandrischem Matsch, der die Stiefel packt wie mit Händen und sie nur widerwillig wieder loslässt.
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