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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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richtige Schauspielerin und verliert die Nerven nie ohne gründliche Vorbereitung –, aber ihre Partnerin, die Kurzhaarige, deren Namen mir ums Verrecken nicht einfällt, schüttelte unmerklich den Kopf. Ich habe diese Geste später noch oft beobachtet, bei allen möglichen Leuten. Nicht auffallen , sagt die Geste, unauffällig bleiben, niemanden reizen. Die Verlierergeste.
    Der von Neusser redete immer weiter. Las jetzt von einem Zettel ab. Selbst der fleißigste Streber schafft nicht alles auswendig. «Der Herr Reichsminister Dr. Goebbels», sagte er. «Von der Wurzel aus reformieren», sagte er. «Mit einem Bekenntnis vorangehen. Schöpferisches Wollen. Der Mut zur neuen Zeit.» Und so weiter und so weiter. Und dann …
    «Die Generaldirektion der Universum Film Aktiengesellschaft», bellte er. Sagte nicht Ufa, wie ein normaler Mensch, sondern den ganzen langen offiziellen Firmennamen. Kroch der Ufa hinten rein, so wie er dem Goebbels mit all dessen Titeln hinten reingekrochen war. «Die Generaldirektion der Universum Film Aktiengesellschaft hat bei ihrer Sitzung vom 31.März folgenden Beschluss gefasst.» Holte einen zweiten Zettel aus der Tasche. Faltete ihn umständlich auseinander. Blaffte dann seinen Text nicht mehr, sondern sang ihn beinahe, ein Frischbekehrter, der in der Kirche besonders innig tremoliert. Großer Gott, wir loben dich. «Eine neue Zeit», verkündete der von Neusser, «braucht neue Bannerträger. Menschen, die in der Lage sind, die gewandelte Grundlage unseres Staatswesens klar zu erkennen. Die fähig sind, sich auf das geistige Niveau der Nation zu erheben. Die bereit sind, die weltanschaulichen Formen einer neuen Zeit anzuerkennen.»
    Machte eine Spannungspause, wie es Provinzschmieranten gern tun, schaute auf seinem Zettel nach, als ob er diesen einen Satz, den Satz, für den er das ganze Theater anstellte, nicht auswendig wüsste, und verdarb sich den ganzen Effekt, weil er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. «Alle Juden», sagte er dann, «verlassen auf der Stelle das Atelier.»
    Verlassen das Atelier.
     
    Es gibt eine Stille, die nicht wirklich lautlos ist. Nach der Schlussszene eines Theaterstücks, wenn der ganze Zuschauerraum einen Augenblick den Atem anhält, bevor dann der Applaus einsetzt oder die Buhrufe, bei einem Konzert, wenn der Dirigent nach dem letzten Ton den Taktstock nicht gleich senkt, um die Musik ungestört ausklingen zu lassen, da kann man so eine Stille hören. Eine Pause, in der bereits rumort, was gleich darauf folgen wird.
    Der von Neusser stand immer noch auf seinem Stühlchen. Hatte immer noch seinen Zettel in der Hand. Im Ballsaal war es still. Niemand machte eine Bewegung. In den Spiegeln an den Wänden hätte man sie doppelt und dreifach gesehen. Niemand sagte ein Wort. Nur ein großes Einatmen war zu spüren, wie das Meer, so hat es mir ein Fischer in Scheveningen einmal erzählt, einatmet, bevor es sich mit einer meterhohen Welle auf ein Schiff stürzt.
    Dann brach der Tumult los.
    «Schande!», rief eine Stimme. Keine kräftige Stimme, kein Schauspieler, der es gewohnt ist, sich hörbar zu machen. Einer von den Statisten, die ja alle bürgerliche Menschen waren, alle noch einen Smoking oder ein Abendkleid besaßen, so wie das für diese Szene verlangt war. «Schande!», rief die Stimme, und dann war sie auch schon nicht mehr allein, dann waren es viele, die ganze Komparserie, und auch die Techniker stimmten ein, die Beleuchter und die vom Ton, und schließlich auch die Schauspieler.
    Alle.
    «Schande!», riefen sie, und «Pfui!», und «Die Ufa soll sich schämen!»
    Der von Neusser konnte es nicht fassen. Er hatte sich an die unterwürfige Behandlung gewöhnt, die ihm die Lieferanten in der Hoffnung auf Aufträge angedeihen ließen, hielt es für selbstverständlich, dass man ihm immer recht gab. Auch von den Mitarbeitern hatte ihm kaum je einer widersprochen; schließlich hatte er bei Gagen und Gehältern ein gewichtiges Wort mitzureden. Er war ein Halbgott gewesen, der ehrfurchtgebietende Stellvertreter der wirklichen Götter aus der Direktionsetage. Und jetzt ertönte plötzlich von allen Seiten Protest.
    Er wollte pantomimisch für Ruhe sorgen, dachte tatsächlich, er könne einfach abwinken. Wollte den Aufruhr mit einer Geste dämpfen, die aussah, als ob da ein Pianist mit zehn gespreizten Fingern auf eine Tastatur einhämmerte. Nur dass da keine Tastatur war und kein stimmgewaltiger, alles übertönender Flügel. Seine Geste ging ins

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