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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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nach Italien geschickt hat. Um Kokons zu besorgen. Damit man im Film sehen kann, wie erfolgreich die Seidenraupenzucht hier ist. Seidenraupen sind ein Steckenpferd von Heinrich Himmler, haben Sie das nicht gewusst? Deutsche Seide für deutsche Fallschirme.»
    «Nein», sage ich. «Das habe ich nicht gewusst.»
    «Sie wissen vieles nicht, Gerron. Ich beneide Sie darum. Ich würde eine Menge darum geben, manche Dinge nicht zu wissen.»
    Er richtet sich auf. Sitzt auf einmal sehr gerade da. Wirkt größer, als er ist. «Machen Sie mir also keine Schwierigkeiten mehr. Bereiten Sie alles vor. Es wird anders gemacht werden, als Sie es sich ausgedacht haben, aber es ist trotzdem gut, vorbereitet zu sein.»
    «Ich soll also weiter Regie führen?»
    «Nein», sagt Eppstein. «Das wird Herr Pečený von der Aktualita übernehmen. Sie werden ihm assistieren. Ihm seine Mappe hinterhertragen, wenn er das haben will. ‹Ja, Herr Pečený›, werden Sie sagen.‹Bitte, Herr Pečený. Danke, Herr Pečený.› Machen Sie nicht so ein Gesicht, Gerron. Sind Ihnen die Kaninchenfelle lieber? Die Latrine? Der Platz von Frau Olitzki im Zug?»
    Ich bin schon bei der Tür, da ruft er mich noch einmal zurück. «Übrigens», sagt er, «die Amerikaner haben Paris befreit.»
     
    Frau Olitzki. Ich habe sie nie nach ihrem Vornamen gefragt. Frau Olitzki aus Troppau. Das ich auf der Landkarte nicht gleich finden würde. Irgendwo im Osten. Ihr Mann hat es am Rücken. Mehr weiß ich nicht von ihr.
    Wenn ich ihr Gesicht beschreiben will, fallen mir nur Einzelheiten ein. Die auf viele Frauen passen. Dunkle Haare. Nicht einmal da bin ich mir sicher. Auf jeden Fall keine auffällige Farbe. Kurz geschnitten, wie bei fast allen Frauen in Theresienstadt. Als sie für die Strandszene eine Badekappe aufsetzen musste, hat das ihre Kopfform nicht verändert.
    Vielleicht hatte sie früher Dauerwellen. Ging jede Woche zum Friseur. Sie hat bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Da muss man seriös aussehen. Vielleicht ließ sie sich einmal einen Bubikopf schneiden und kriegte Ärger mit ihrem Chef, weil er das zu modern fand. Ich kann sie nicht mehr fragen.
    Ich weiß nur, dass sie auf Transport gegangen ist.
    Wenn ich ihr Gesicht zeichnen müsste, selbst wenn ich kein Glumskopp wäre und ungeschickt in diesen Dingen, es käme nur ein leeres Oval zustande. Wie diese augen- und mundlosen Kugeln, auf denen Maskenbildner ihre Perücken aufbewahren. Grauer Filz. Ich meine, dass sie eine kräftige Nase hat und dass sie manchmal daran reibt, während ihre andere Hand auf den Tasten liegen bleibt. Aber vielleicht erinnere ich mich da an jemand anderen.
    Es ist erst ein paar Tage her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe, und schon geraten mir die Erinnerungen durcheinander.
    Sie hat einen Goldzahn, da bin ich mir sicher. Links oder rechts? Egal. Sie spielt mit der Zunge daran herum, das ist mir einmal aufgefallen, und dann wölbt sich ihre Oberlippe. Rechts, glaube ich.
    Ihr Ehering sitzt zu locker. Bevor sie sich an die Tastatur setzt, nimmt sie ihn ab und legt ihn neben die Schreibmaschine. Sie muss früher einmal dicker gewesen sein, aber das ist keine Erkenntnis. Wir waren alle einmal dicker.
    Sie trägt immer ein Halstuch. Legt es auch bei heißem Wetter nicht ab. Vielleicht ist ihr Hals faltig geworden, so wie meiner, und sie will das verstecken. Obwohl: Eitel schien sie mir nie. Eine sachliche Person. Zupackend.
    Wenn ich das nicht in sie hineingelesen habe. Weil ich sie so brauchte.
    Ich weiß nicht einmal, wie alt sie ist. Ich habe sie nie danach gefragt.
    In Berlin habe ich mich bei den Mädels, die für mich tippten, immer nach dem Geburtstag erkundigt und sie dann mit einem kleinen Geschenk überrascht. Vor allem, wenn sie hübsch waren. Ich hatte meinen Ruf als Frauenheld zu wahren.
    Frau Olitzki ist nicht hübsch. Auch nicht hässlich. Unauffällig. Sie kann Schreibmaschine schreiben und vergisst nicht, was man ihr aufträgt. Mehr hat mich an ihr nicht interessiert. Nicht wirklich.
    Ich habe mir eingeredet, dass ich sie vor dem Transport bewahren könne. Dass sie mir dankbar sein müsse. Habe vor mir selber den großen Beschützer gespielt. Lanzelot Gerron. Aber es ging gar nicht um sie. Es ging um mich. Ich tat das, was ich ohnehin tun musste, und wollte ein gutes Gewissen dabei haben. Frau Olitzki war eine meiner Ausreden.
    Es ist mir keine Ausrede mehr geblieben.
    Man hat schon viele Menschen auf Transport gehen sehen. Hat sich daran gewöhnt. So wie

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