Gesammelte Werke 6
diesem Sinne war ich unschuldig. Aber anscheinend gab es eine objektive und eine subjektive Schuld. Und eins war unbestreitbar: Der ganze Haufen Kleingeld im Wert von vierundsiebzig Kopeken war rechtlich gesehen die Ausbeute eines mithilfe technischer Mittel, nämlich eines nicht wechselbaren Fünfers, ausgeführten Diebeszugs.
»Lesen Sie das Protokoll durch, und unterschreiben Sie«, forderte der Leutnant mich auf.
Ich las das Protokoll durch. Daraus ging hervor, dass ich, der Unterzeichnende Priwalow, A. I., auf mir unbekannte Weise in den Besitz eines funktionstüchtigen Modells des nicht wechselbaren Fünfers, Staatlicher Standard 718-62, gelangt war und damit Missbrauch getrieben hatte. Ferner, dass ich, der Unterzeichnende Priwalow, A. I., behauptete, in uneigennütziger Absicht ein wissenschaftliches Experiment vorgenommen zu haben, dass ich bereit war, den dem Staat zugefügten Schaden in Höhe von einem Rubel und fünfundfünfzig Kopeken wiedergutzumachen, und dass ich schließlich laut Verordnung des Solowetzker Stadtsowjets vom 22. März 1959 das oben genannte funktionstüchtige Modell eines nicht wechselbaren Fünfers dem Diensthabenden des Reviers, Leutnant Sergijenko, U. U., übergeben und dafür fünf Kopeken in Form einer auf dem Territorium der Sowjet union gültigen Münze erhalten hatte. Ich unterschrieb.
Der Leutnant verglich meine Unterschrift mit meinem Namenszug im Ausweis, zählte die Kupfermünzen noch einmal sorgfältig nach, brachte telefonisch den genauen Preis der Sahnebonbons und des Bürstchens zum Reinigen von Primuskochern in Erfahrung, schrieb eine Quittung und über reichte mir diese zusammen mit den gültigen fünf Kopeken.
Dann händigte er mir die Zeitungen, die Streichhölzer, die Bonbons und das Bürstchen aus und sagte: »Das Wasser haben Sie nach eigenem Eingeständnis getrunken. Macht insgesamt einundachtzig Kopeken.«
Mit einem Gefühl unbeschreiblicher Erleichterung beglich ich die Rechnung. Der Leutnant blätterte meinen Ausweis noch einmal aufmerksam durch und gab ihn mir dann zurück.
»Sie können gehen, Herr Priwalow«, sagte er. »Und sehen Sie sich in Zukunft vor. Bleiben Sie länger in Solowetz?«
»Morgen reise ich ab«, erklärte ich.
»Dann sehen Sie sich also bis morgen vor.«
»Ich werde mir größte Mühe geben«, erwiderte ich und steckte meinen Ausweis ein. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, erkundigte ich mich noch mit gesenkter Stimme: »Sagen Sie, Genosse Leutnant, kommt Ihnen hier, in Solowetz, nicht manches merkwürdig vor?«
Der Leutnant hatte sich schon wieder in seine Papiere vertieft. »Ich bin schon lange hier«, antwortete er zerstreut. »Man gewöhnt sich daran.«
5
»Glauben Sie denn selbst an Gespenster?«, fragte ein Zuhörer den Referenten.
»Natürlich nicht«, antwortete der Referent und löste sich langsam in Luft auf.
Eine wahre Geschichte
Bis zum Abend gab ich mir also große Mühe, mich vorzusehen. Vom Revier aus begab ich mich geradewegs zur Straße an der Meeresbucht und kroch sogleich unter mein Auto. Es war schwül. Im Westen zog langsam eine dunkle Gewitterwolke auf. Während ich unter dem Wagen lag und mich mit Fett beschmierte, trat Naina Kiewna – plötzlich die Freundlichkeit selbst – zweimal mit der Bitte an mich heran, sie auf den Kahlen Berg zu fahren. »Wie’s heißt, schadet langes Stehen dem Wagen bloß, mein Guter«, gurrte sie mit krächzender Stimme und lugte unter die vordere Stoßstange. »Wie’s heißt, ist’s für ihn besser, wenn er bewegt wird. Und ich würd’s dir auch bezahlen, nicht dass du denkst …« Aber ich hatte keine Lust, sie auf den Kahlen Berg zu fahren. Erstens konnten jeden Augenblick die Jungs eintreffen. Zweitens war mir eine gurrende Naina Kiewna noch unangenehmer als eine zänkische. Zudem stellte sich heraus, dass es bis zum Kahlen Berg neunzig Werst waren, und als ich die Alte fragte, wie die Straße dorthin beschaffen sei, versicherte sie freudestrahlend, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, die Straße dorthin sei einwandfrei, und notfalls werde sie, die Alte, den Wagen eigenhändig anschieben. (»Guck nicht auf meine Jahre, mein Guter, ich hab noch genug Mumm in den Knochen.«) Nach der ersten erfolglosen Attacke gab sich die Alte vorübergehend geschlagen und zog sich in die Hütte zurück. Dann machte mir Kater Wassili seine Aufwartung. Eine Weile sah er mir aufmerksam auf die Finger, dann sagte er halblaut, aber deutlich: »Ich rate dir ab, Herr … hm
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