Gesang des Meeres - Feehan, C: Gesang des Meeres - Turbulent Sea (6 - Joley u. Ilya Prakenskii)
ihr Kinn und bog ihr Gesicht zu sich hoch, so dass sie gezwungen war, ihn anzusehen. Seine Hände waren unglaublich sanft, doch seine Finger waren fest und hinderten sie daran, das Gesicht abzuwenden. »Nicht heute Nacht. Ich werde bei dir bleiben. Entspanne dich einfach, Ljubimaja moja , ich werde dir nicht wehtun.«
Sie holte Atem und legte ihre Handfläche über seinem Herzen auf seine Brust. »Doch, das wirst du tun, Ilja, und ich glaube nicht, dass ich mich jemals wieder davon erholen werde. Daher kannst du weder heute Nacht bei mir bleiben noch irgendeine andere Nacht mit mir verbringen.«
» Was bringt dich auf den Gedanken, ich würde dir wehtun? «
Sie blickte blinzelnd zu ihm auf – und sah ihn. Sah seine Aura. Sah in sein Inneres. Jeder Mensch brachte durch seine individuellen Erfahrungen seine eigene »Symphonie« hervor, und die nahm sie wahr, wenn sie einen Menschen ansah. Das war der Grund, weshalb sie etwas in ihren Gesang einfließen lassen konnte, das Menschen dann unwiderstehlich zu einer ganz bestimmten Person hinzog. Sie konnte eine Sequenz aus der Melodie eines Menschen herausholen und die Vibrationen jeder musikalischen Note, die in seinem Gehirn abgespielt wurde, »fühlen«; sie als verschiedene Instrumente wahrnehmen und Werke erschaffen, die sowohl komplex als auch simpel waren. Werke, die von Freude oder Kummer erfüllt waren, von Mitgefühl oder ehrgeizigem Trachten – von jeder erdenklichen Leidenschaft und insbesondere von den Leidenschaften des Guten oder Bösen.
Sie sah Ilja nicht als böse an – seine Färbung hatte nicht diesen widerlichen Ton –, aber es war auch nirgends Licht zu finden. Macht, ja, das schon, viel zu viel davon. Er verströmte Herrschaft und Autorität aus allen Poren. Kraft und Gewalttätigkeit wirbelten um ihn herum. Die meisten Menschen waren eine Mischung aus Licht und Dunkel und Schattierungen in allen Farben. Ilja dagegen bestand ausschließlich aus Schatten, und die meisten dieser Schatten waren undurchdringlich, trüb und so finster, dass sie nicht durch die erbarmungslose Schwärze blicken konnte.
»Joley, antworte mir. Was bringt dich auf den Gedanken, ich würde dir wehtun?«
Seine Melodie war wild und turbulent in ihren Gitarrenriffs, leidenschaftlich und glutvoll in den Keyboard-Parts, die Percussion-Einsätze dagegen äußerst kontrolliert und doch von gewalttätigen Beckenschlägen durchsetzt. Fließende Harmonien wurden von abrupten Einsätzen der Blasinstrumente begleitet,
Blitze zuckten, wenn Gitarren einander bekämpften, und es gab Intermezzi aus schmelzenden Saxophonklängen. Er war feurig und beherrscht, dominant und mysteriös, sogar in seiner Musik, der eigentlichen Essenz seines Wesens. Es bestand keine Hoffnung für sie, seine Melodie zu verstehen, ohne jede einzelne Note eingehend zu untersuchen, und sie wagte nicht, ihm so nahezukommen, jedenfalls dann nicht, wenn ihr Herz – und ihre Seele – in Gefahr waren.
Joley stieß den Atem aus. »Du weißt, warum. Du besitzt Gaben.«
»Nur aufgrund dieser Gaben weiß ich, dass wir zusammengehören. «
Sie zog sich vor ihm zurück, denn sie wollte nicht von ihm berührt werden. Sie konnte ihn nicht ergründen, aber es war durchaus möglich, dass er ihr Inneres erkundete, und das durfte sie nicht riskieren. Sie war zu konfus, was ihre Gefühle ihm gegenüber betraf.
»Küss mich noch einmal. Wenn wir reden, kommt nicht allzu viel dabei heraus, aber wenn wir uns küssen, passen wir perfekt zusammen.«
Sie war sich da nicht so sicher. Sie wollte gern glauben, sie passte zu ihm, aber es sah eher danach aus, als risse er die Herrschaft über sie an sich, und sie verschmölze einfach nur mit ihm, bis sie beide in derselben Haut steckten. Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, es liegt auf der Hand, dass du nie mit mir allein in einem Raum sein solltest. Du kannst nicht mit mir nach Red Rocks fahren, das ist viel zu weit.« Joley war so frustriert, dass sie am liebsten geweint hätte. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, sich nackt auszuziehen und den entsetzlichen Schmerz zu lindern, die Leere, gegen die nichts half, zu füllen, aber sie wagte es nicht, das Risiko einzugehen, nicht nach diesem Kuss. Wenn es um Ilja ging, war sie nicht mehr zu retten.
Er musterte sie einen Moment lang und setzte sich dann auf
einen Sessel ihr gegenüber. Was er sah, stellte ihn mehr als zufrieden – die tiefe Röte ihres Gesichts, die geschwollenen Lippen, ihre Brüste, die sich hoben und
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