Gesang des Meeres - Feehan, C: Gesang des Meeres - Turbulent Sea (6 - Joley u. Ilya Prakenskii)
Bedürfnis wahrgenommen. Vielleicht war es aus seiner Stimme herauszuhören gewesen. Er war es gewohnt, allein zu sein. Er kannte keine andere Lebensform und hatte nie etwas anderes in Erwägung gezogen, denn er wusste gar nicht, woher
man das Vertrauen dazu nahm. Aber sie hatte in ihm den Wunsch geweckt, es zu lernen, den Wunsch, ein Risiko einzugehen. Sie war der erste Mensch in seinem Leben, der ihm jemals angeboten hatte, auf ihn aufzupassen. Das war noch nie da gewesen. Sie musste es im Schlaf gesagt haben, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Du redest im Schlaf.« Er schmiegte sein Kinn zart an ihre Schädeldecke.
Sie lächelte, ohne die Augen zu öffnen. »Ich schlafe nicht.«
»Du schläfst jetzt – mit mir. Für mich.«
Ihr Lächeln wurde strahlender, und ihr Arm spannte sich enger um ihn, bevor sie sich wieder vollständig entspannt an ihn schmiegte. » Weil du ein solcher Diktator bist.«
Er ertappte sich dabei, dass er schon wieder über das ganze Gesicht lächelte.
6.
I lja war fort. Joley kniff ihre Augen fest zu und versuchte, sich nicht allein zu fühlen und in Panik zu geraten. Sie hasste es, beim Aufwachen Stille um sich herum zu hören. Da sie in einer großen Familie aufgewachsen war, liebte sie es, zu Hause zu sein und die wohltuenden Geräusche zu vernehmen, mit denen sich der Haushalt regte und ein neuer Tag begann. Auch wenn die Nacht noch so seltsam gewesen war, war sie doch eingeschlafen und fühlte sich tatsächlich ausgeruht.
Sie seufzte, schlug die Augen auf, rollte sich herum und starrte die Decke ihres Busses an. Sie wusste, dass sie in Red Rocks auf dem Parkplatz stehen mussten, denn sonst wäre der Bus noch in Bewegung gewesen und Ilja an ihrer Seite. Sie hob die Arme, öffnete ihre Finger und starrte ihre Handfläche an. Kein sichtbares Mal war zu erkennen, doch sie fühlte das schwache Jucken, das dort häufig wahrzunehmen war und sie daran erinnerte, dass Ilja ihr eine gewischt hatte und sie nichts dagegen tun konnte. Ihr war nicht bewusst gewesen, welche Macht dieses Zeichen besaß oder wie sehr es sie an ihn gebunden hatte. Sie strich mit einer Fingerkuppe leicht über ihre Handfläche. Nichts geschah. Nicht das Geringste tat sich.
Mit einem kleinen Stirnrunzeln setzte Joley sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie musste ihre Liste schreiben und alles anführen, was für und was gegen Ilja sprach. Seine guten Seiten würden überwiegen müssen, wenn sie sich auf eine Diskussion mit ihren Schwestern einließ, denn
sie war bereits verloren. Sie tappte zu der kleinen Küche, um den Kessel aufzusetzen, während sie sich auf den Soundcheck vorbereitete. Ihnen blieben nur wenige Stunden für die Vorbereitungen des Konzerts am heutigen Abend. Es war schwierig, zwei Auftritte an aufeinanderfolgenden Tagen zu absolvieren, aber Red Rocks war es ihr wert. Schon jetzt hatte sie Lust hinauszugehen und einfach nur die Luft einzuatmen. Sie würde eine Runde drehen und die Gegend auskundschaften, denn Red Rocks war einer der coolsten Orte auf der Welt.
Sie konnte Iljas Anwesenheit in ihrem Bus immer noch fühlen, als sie unter der Dusche stand. Hatte Steve ihn gesehen, als er fortgegangen war? Sie bezweifelte es. Ilja war kein Mann, den man sah, wenn er nicht gesehen werden wollte, und irgendwie war sie ziemlich sicher, dass Ilja versuchen würde, ihren Ruf zu schützen. Und das würde sie in die positive Spalte ihrer Liste schreiben. Sie würde schleunigst eine Liste anlegen, um zu entscheiden, ob sie mit Ilja Prakenskij schlafen sollte oder nicht, denn eine Auflistung seiner guten und schlechten Seiten war das einzig Vernünftige, das sie tun konnte.
Sie setzte sich mit einer Tasse Tee und dem Stift zwischen ihren Fingern hin, trommelte auf die Tischplatte und versuchte, sich an all die Gegengründe zu erinnern, die ihr gestern eingefallen waren. Es hatte vieles gegen ihn gesprochen, doch das, was er mit ihrer Handfläche getan hatte, war gewaltig ins Gewicht gefallen und hatte den Ausschlag zu seinen Gunsten gegeben. Tatsächlich schienen die Gründe, die gegen ihn sprachen, dauerhaft aus ihrem Gedächtnis gelöscht zu sein.
Sarah. Bevor sie eine Entscheidung in Bezug auf Ilja traf, sollte sie mit Sarah darüber reden. Schließlich war sie die Älteste und erteilte wirklich gute Ratschläge – selbst dann, wenn niemand sie hören wollte.
Joley griff nach ihrem Handy und zögerte dann. Sie hatte noch etwas Zeit, die Gegend zu erkunden, und sie brauchte eindeutig
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