Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
mit dem Kamm durch die zerzausten Haare zu fahren, sich zu pudern und die Lippen anzumalen, während er im Unterholz verschwand. Der Regen hatte aufgehört, die Stämme der Buchen leuchteten im grauen Licht. Links neben dem Wagen wuchs auf einer Böschung roter Fingerhut, und er war so nah, daß O ihn hätte pflücken können, wenn sie den Arm durch das heruntergelassene Fenster gestreckt hätte. Der junge Mann kam zurück, schloß die Tür, die er offengelassen hatte, ließ den Wagen an, und nachdem sie wieder auf der Hauptstraße waren, verging keine Viertelstunde, bis sie ein Dorf erreichten und hinter sich ließen, das O nicht wiedererkannte. Aber als der Wagen langsamer an der nicht enden wollenden Mauer eines großen Parks entlanggefahren war und dann vor einem völlig mit wildem Wein bewachsenen Haus hielt, begriff sie es endlich: das konnte nur der kleine Eingang von Roissy sein. Sie stieg aus; der junge Mann in Uniform holte ihre Koffer heraus. Die Tür aus Hartholz, dunkelgrün gestrichen und lackiert, öffnete sich, ohne daß sie geklopft oder geklingelt hätte: man hatte sie von drinnen gesehen. Sie überschritt die Schwelle; die fliesenbelegte Diele mit der rotweißen Perkalintapete war leer. Genau vor ihr war ein Spiegel, der die gesamte Breite der Wand einnahm, und sie sah sich ganz in ihm, schlank und aufrecht in ihrem grauen Kostüm, den Mantel über dem Arm, die Koffer zu ihren Füßen, die Tür, die sich hinter ihr schloß, und dieser Heidekrautstengel in der Hand, den sie ganz automatisch genommen hatte, als der junge Mann ihn ihr gereicht hatte, ein kindisches und höhnisches keepsake, das sie nicht auf die gut gewachsten Fliesen zu werfen wagte und das ihr lästig war, ohne daß sie wußte, warum. Doch, sie wußte es: wer war es doch, der ihr erzählt hatte, das in den Wäldern in der Nähe von Paris gepflückte Heidekraut bringe Unglück? Da wäre es noch besser gewesen, den Fingerhut zu pflücken, den anzufassen ihre Großmutter ihr verboten hatte, als sie ein Kind war, weil er giftig ist. Sie legte den Heidekrautstengel in die Nische des Fensters, das die Diele erhellte. Im selben Augenblick kam Anne-Marie, gefolgt von einem Mann in einem blauen Gärtneranzug. Der Gärtner nahm Os Koffer. »Na, immerhin bist du da«, sagte Anne-Marie. »Es ist fast zwei Stunden her, daß Sir Stephen mich angerufen hat, der Wagen würde dich direkt herbringen. Was war denn los?« - »Nun, der Chauffeur«, sagte O. »Ich glaubte...« Anne-Marie lachte. »Ach so«, sagte sie. »Er hat dich vergewaltigt, und du hat es dir gefallen lassen? Nein, das war nicht vorgesehen, er hatte keineswegs das Recht dazu. Aber das macht nichts, du bist ja dafür da.« Und sie fügte hinzu: »Du fängst gut an, ich werde es Sir Stephen erzählen, es wird ihm Spaß machen.« - »Kommt er her?« fragte O. - »Er hat nicht gesagt, wann«, antwortete Anne-Marie, »aber ich glaube, ja.« Die Angst, die O die Kehle zuschnürte, löste sich, sie sah Anne-Marie dankbar an; wie schön und charmant war sie mit ihren graumelierten Haaren. Über einer schwarzen Hose und schwarzen Bluse trug sie eine Weste aus scharlachrotem Tuch. Offenbar galt die Vorschrift, der die Frauen in Roissy unterworfen waren, nicht für sie. »Heute wirst du mit mir mittagessen«, sagte sie zu O, »und du wirst dich dafür zurechtmachen. Ich bringe dich zur kleinen Gittertür, wenn der Gong drei Uhr schlägt.« O folgte Anne-Marie, ohne ein Wort zu sagen, im siebenten Himmel schwebend; Sir Stephen würde kommen.
Anne-Maries Appartement nahm einen Teil des im rechten Winkel zu den Wirtschaftsgebäuden liegenden Flügels ein, die sich zwischen den Baulichkeiten des eigentlichen Schlosses und der Straße erstreckten. Anne-Marie hatte hier einen Salon, durch den man in eine Art von kleinem Boudoir gelangte, ein Schlafzimmer und ein Bad; die Tür, durch die O eingetreten war, gab Anne-Marie die Möglichkeit, nach Belieben zu kommen und zu gehen. Ebenso wie in ihrem Haus in Samois zum Garten, hatten hier Anne-Maries Salon und Schlafzimmer ebenerdige Ausgänge zum Park. Der Park war sehr gepflegt und weitläufig, und seine sehr großen Bäume hatte der nahende Herbst noch nicht berührt, während sich der wilde Wein an den Mauern schon rot zu färben begann. O stand mitten im Salon, betrachtete die weiße Täfelung, die hellen Nußbaummöbel in rustikalem Directoire-Stil und das große Sofa in einem Alkoven, das ebenso wie die Sessel einen gelb und blau gestreiften Bezug
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