Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Sozialismus - das Endziel - zu erlangen." Der traditionelle Hinweis auf das "Endziel" unterstreicht zur Genüge die historische Distanz in bezug auf den Sozialismus. Weiter ging niemand. Die Befürchtung, die Grenzen der demokratischen Revolution zu überschreiten, diktierte die Politik des Abwartens, der Anpassung und des faktischen Rückzuges vor den Versöhnlern.
Wie drückend die politische Charakterlosigkeit des Zentrums sich auf die Provinz auswirkte, ist nicht schwer zu begreifen. Begnügen wir uns mit dem Zeugnis eines Leiters der Saratower Organisation: "Unsere Partei, die an dem Aufstand aktiv beteiligt gewesen war, hatte offenbar den Einfluß auf die Massen verloren, und er wurde von den Sozialrevolutionären aufgefangen. Welches die Parolen der Bolschewiki waren, wußte niemand ... Ein sehr unangenehmes Bild."
Die linken Bolschewiki, vor allem die Arbeiter, waren aus allen Kräften bestrebt, die Quarantäne zu durchbrechen. Doch auch sie wußten nicht, wie die Argumente vom bürgerlichen Charakter der Revolution und den Gefahren der Isolierung für das Proletariat zu parieren. Mit innerer Überwindung unterwarfen sie sich den Direktiven der Leitung. Verschiedene Strömungen im Bolschewismus prallten vom ersten Tag an ziemlich heftig aneinander, aber nicht eine führte ihre Gedanken zu Ende. Die Prawda spiegelte diesen verworrenen und schwankenden Ideenzustand der Partei wider, ohne eine Einheit hineinzubringen. Die Lage wurde noch verwickelter Mitte März, nach der Ankunft Kamen-jews und Stalins aus der Verbannung, die das Steuer der offiziellen Parteipolitik schroff nach rechts warfen.
Bolschewik fast seit der Entstehung des Bolschewismus, stand Kamenjew stets auf dem rechten Flügel der Partei. Nicht ohne theoretische Vorbereitung und politischen Instinkt, mit großer Erfahrung im russischen Fraktionskampfe und einem Vorrat an politischen Beobachtungen im Westen, griff er besser als viele andere Bolschewiki Lenins Gesamtideen auf, aber nur, um ihnen in der Praxis eine möglichst friedliche Deutung zu geben. Weder Selbständigkeit des Entschlusses noch Initiative der Tat durfte man von ihm erwarten. Hervorragender Propagandist, Redner, kein glänzender, aber ein nachdenklicher Journalist, war Kamenjew besonders wertvoll für Verhandlungen mit anderen Parteien und sogar für die Erforschung anderer Gesellschaftskreise, wobei er von solchen Exkursionen stets ein Partikel parteifremder Stimmungen mitbrachte. Diese Eigenschaften Kamenjews traten derart klar zutage, daß sich fast niemand in bezug auf seine politische Figur täuschte. Suchanow vermerkt an ihm das Fehlen "scharfer Kanten" er "muß stets ins Schlepptau genommen werden, und wenn er sich mitunter auch widersetzt, so doch nicht heftig". In gleichem Sinne schreibt auch Stankewitsch: Die Beziehungen Kamenjews zu den Gegnern "waren so milder Art, daß es schien, als schämte er sich selbst über die Unversöhnlichkeit seiner Position im Komitee war er zweifellos nicht Feind, sondern nur Opposition". Dem ist fast nichts hinzuzufügen.
Stalin stellte sowohl seiner psychologischen Verfassung wie dem Charakter seiner Parteiarbeit nach, einen ganz anderen Bolschewikentyp dar: den des festen, theoretisch und politisch primitiven Organisators. Blieb Kamenjew in der Eigenschaft eines Publizisten eine Reihe von Jahren mit Lenin in der Emigration, wo sich der Herd der theoretischen Arbeit der Partei befand, so war Stalin als sogenannter Praktiker ohne theoretischen Horizont, ohne breite politische Interesse und ohne Kenntnis fremder Sprachen vom russischen Boden nicht zu trennen. Solche Arbeiter tauchten im Auslande nur vorübergehend auf, um Instruktionen zu erhalten und wieder nach Rußland zurückzukehren. Stalin zeichnete sich unter den Praktikern durch Energie, Beharrlichkeit und Erfindungsgabe für Kulissenkombinationen aus. Wenn Ki-menjew aus seiner Natur heraus sich der praktischen Folgerungen Bolschewismus "schämte", so neigte im Gegenteil Stalin einmal erfaßte praktische Folgerungen ohne jede Milderung zu verteidigen, mit einer Mischung von Beharrlichkeit und Grobheit.
Ungeachtet der Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere haben Kamenjew und Stalin nicht zufällig zu Beginn der Revolution eine gemeinsame Position eingenommen: sie ergänzten einander. Revolutionäre Konzeption ohne revolutionären Willen ist dasselbe wie eine Uhr mit zerbrochener Feder: der politische Zeiger Kamenjews blieb stets hinter den revolutionären Aufgaben zurück. Doch
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