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Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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im Südosten Europas. Der darauf folgende imperialistische Krieg vollendete beiläufig in Europa die nicht abgeschlossene Arbeit der nationalen Revolutionen, indem er zur Zergliederung Österreich-Ungarns führte, zur Schaffung eines unabhängigen Polen und der Randstaaten, die sich von dem Zarenreiche abgetrennt hatten.
    Rußland entstand nicht als nationaler Staat, sondern als Staat von Nationalitäten. Das entsprach seinem verspäteten Charakter. Auf der Grundlage von extensiver Landwirtschaft und Heimindustrie entwickelte sich das Handelskapital nicht in die Tiefe, nicht vermittels einer Umbildung der Produktion, sondern in die Breite, durch Vergrößerung seines Operationsradius. Händler, Gutsbesitzer und Beamter rückten vom Zentrum zur Peripherie vor, hinter den siedelnden Bauern her, die auf der Suche nach neuem Land und Befreiung von Abgabenlasten in neue Territorien mit noch rückständigeren Stämmen vordrangen. Die Expansion des Staates war in ihrem Kern eine Expansion der Landwirtschaft, die bei all ihrer Primitivität den Nomaden des Südens und Ostens überlegen war. Der auf dieser unermeßlichen und sich dauernd verbreiternden Basis erwachsene ständisch-bürokratische Staat wurde stark genug, um sich im Westen einzelne Nationen von höherer Kultur zu unterwerfen, die infolge zahlenmäßiger Schwäche oder innerer Krisen unfähig waren, ihre Selbständigkeit zu verteidigen (Polen, Litauen, die Baltischen Provinzen, Finnland).
    Zu den siebzig Millionen Großrussen, die den Grundstock des Landes bildeten, kamen allmählich noch neunzig Millionen "Fremdstämmiger" hinzu, die sich scharf in zwei Gruppen teilten: die westlichen, durch ihre Kultur Großrußland überlegen, und die östlichen, auf einem tieferen Niveau stehend. So bildete sich das Reich heraus, dessen herrschende Nationalität nur 43 Prozent der Bevölkerung betrug, während 57 Prozent, darunter 17 Prozent Ukrainer, 6 Prozent Polen, 41/2 Prozent Weißrussen, auf Nationalitäten von verschiedenen Stufen der Kultur und der Rechtlosigkeit entfielen.
    Die habsüchtige Begehrlichkeit des Staates und die Dürftigkeit der bäuerlichen Basis der herrschenden Klassen schufen erbittertste Formen der Ausbeutung. Die nationale Unterdrückung war in Rußland viel größer als in den Nachbarstaaten, nicht nur jenseits der westlichen, sondern auch jenseits der östlichen Grenze. Die große Zahl der rechtlosen Nationen und die Schärfe der Rechtlosigkeit verliehen dem nationalen Problem im zaristischen Rußland gewaltige Explosivkraft.
    Wenn in national-einheitlichen Staaten die bürgerliche Revolution erst mächtige zentripetale Tendenzen entwickelte, da sie im Zeichen der Überwindung des Partikularismus verlief, wie in Frankreich, oder der nationalen Zersplitterung, wie in Italien und Deutschland, so entfesselte in national heterogenen Staaten, wie der Türkei, Rußland, Österreich-Ungarn, umgekehrt die verspätete bürgerliche Revolution die zentrifugalen Kräfte. Trotz scheinbarer Gegensätzlichkeit dieser in den Termini ausgedrückten Prozesse ist ihre historische Funktion die gleiche, soweit es sich in beiden Fällen darum handelt, die nationale Einheit als das wichtigste Wirtschaftsreservoir auszunutzen: Deutschland mußte man zu diesem Zwecke vereinigen. Österreich-Ungarn dagegen - zergliedern.
    Die Unvermeidlichkeit der Entwicklung zentrifugaler Nationalbewegungen in Rußland hatte Lenin rechtzeitig in Bä-tracht gezogen und während einer Reihe von Jahren hartnäckig, im besonderen gegen Rosa Luxemburg, gekämpft um den berühmten Paragraphen 9 des alten Parteiprogramms, der das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, das heißt auf völlige staatliche Loslösung, formulierte. Damit nahm die bolschewistische Partei noch keinesfalls auf sich; Separatismus zu predigen. Sie übernahm nur die Verpflichtung, jeglicher Art von nationaler Unterdrückung, auch der gewaltsamen Festhaltung irgendeiner Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Widerstand zu leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen der unterdrückten Völker gewinnen.
    Doch war dies nur die eine Seite der Sache. Die Politik des Bolschewismus auf nationalem Gebiet hatte noch eine andere, der ersten gleichsam widersprechende, in Wirklichkeit aber sie ergänzende Seite. Im Rahmen der Partei und der Arbeiterorganisationen überhaupt verfolgte der Bolschewismus strengsten Zentralismus, bei unversöhnlichem Kampf gegen jede Art

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