Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
nationalistischer Seuche, die fähig wäre, die Arbeiter zueinander in Gegensatz zu bringen oder sie zu trennen. Indem er dem bürgerlichen Staat entschieden das Recht absprach, einer nationalen Minderheit gewaltsames Zusammenleben oder auch nur die Staatssprache aufzuzwingen, betrachtete der Bolschewismus es gleichzeitig als seine wahrhaft heiligste Aufgabe, die Werktätigen verschiedenster Nationalitäten durch freiwillige Klassendisziplin so eng wie möglich zu einer Einheit zu verbinden. Deshalb lehnte er das national-föderative Prinzip des Parteiaufbaues rundweg ab. Die revolutionäre Organisation ist kein Prototyp des Zukunftsstaates, sondern nur das Instrument zu seiner Schaffung. Das Instrument muß zweckmäßig der Herstellung eines Erzeugnisses entsprechen, keinesfalls jedoch dieses in sich bergen. Nur die zentralistische Organisation kann den Erfolg des revolutionären Kampfes sichern, - auch dann, wenn es um die Vernichtung des zentralistischen Joches über Nationen geht.
Der Sturz der Monarchie mußte für Rußlands unterdrückte Nationen notwendigerweise auch deren nationale Revolution bedeuten. Doch zeigte sich hier das gleiche wie auf allen anderen Gebieten des Februarregimes: die offizielle Demokratie, gebunden durch ihre politische Abhängigkeit von der imperialistischen Bourgeoisie, war absolut unfähig, die alten Ketten zu zerreißen. Indem sie ihr Recht, über das Schicksal aller übrigen Nationen zu bestimmen, als unbestreitbar betrachtete, verteidigte sie eifersüchtig weiter jene Reichtums-, Macht- und Einflußquellen, die der großrussischen Bourgeoisie die Vorherrschaft gesichert hatten. Die Versöhnler-Demokratie übersetzte nur die Traditionen der nationalen Politik des Zarismus in die Sprache der Befreiungsrhetorik: jetzt handelte es sich um die Verteidigung der Einigkeit der Revolution. Doch die herrschende Koalition hatte ein anderes, schärferes Argument: Erwägungen der Kriegszeit. Das bedeutet: die Befreiungsbestrebungen einzelner Nationalitäten wurden hingestellt als Gebilde von der Hand des deutsch-österreichischen Stabes. Erste Geige spielten auch hier die Kadetten, die Versöhnler die Begleitung.
Die neue Macht konnte natürlicherweise den widerlichen Knäuel mittelalterlicher Verhöhnung der Fremdstämmigen nicht unangetastet lassen. Doch hoffte und versuchte sie, sich lediglich auf die Abschaffung von Ausnahmegesetzen gegen einzelne Nationen zu beschränken, das heißt auf die Herstellung der bloßen Gleichheit aller Teile der Bevölkerung vor der großrussischen Staatsbürokratie.
Die formelle Gleichberechtigung brachte am meisten den Juden ein: die Zahl der ihre Rechte einschränkenden Gesetze betrug sechshundertundfünfzig. Außerdem konnten die Juden, als eine rein städtische und verstreutere Nationalität, weder Anspruch erheben auf staatliche Selbständigkeit noch auf territoriale Autonomie. Was den Plan einer sogenannten "national-kulturellen Autonomie" betrifft, die die Juden des ganzen Landes um Schulen und andere Institutionen vereinigen sollte, so zerrann diese von verschiedenen jüdischen Gruppen dem österreichischen Theoretiker Otto Bauer entlehnte reaktionäre Utopie mit dem ersten Tage der Freiheit wie Wachs unter Sonnenstrahlen.
Doch ist die Revolution gerade deshalb Revolution, weil sie sich nicht mit Almosen und Ratenzahlungen begnügt. Die Beseitigung der beschämendsten Beschränkungen brachte die formelle Gleichberechtigung der Bürger unabhängig von ihrer Nationalität; aber um so schärfer enthüllte sie die fehlende Gleichberechtigung der Nationen selbst, die sie zum größten Teil in der Lage von Stief- und Pflegekindern des großrussischen Staates beließ.
Die bürgerliche Gleichberechtigung brachte vor allem nichts den Finnen, die nicht Gleichstellung mit den Russen anstrebten, sondern Unabhängigkeit von Rußland. Sie brachte nichts Neues den Ukrainern ein, die auch früher keine Einschränkungen gekannt hatten, weil man sie zwangsweise für Russen erklärte. Sie änderte nichts an der Lage der von deutschem Gutshof und deutsch-russischer Stadt bedrückten Letten und Esten. Sie erleichterte nicht das Schicksal der rückständigen Völker und Stämme Asiens, die nicht durch juristische Beschränkungen, sondern durch die Ketten des ökonomischen und kulturellen Joches am Boden der Rechtlosigkeit gehalten wurden. Alle diese Fragen wollte die liberal-versöhnlerische Koalition nicht einmal anschneiden. Der demokratische Staat blieb der gleiche
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