Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
befreite, dem Smolny den Krieg zu erklären, wofür den Regierenden die Kräfte fehlten. So wurde der schon nach außen durchzubrechen bereite Konflikt mit Hilfe der Regierungsorgane wieder in die legalen Rahmen der Doppelherrschaft zurückgeleitet: in seiner Angst, der Wirklichkeit in die Augen zu schauen, trug der Stab um so sicherer zur Maskierung des Aufstandes bei.
War aber nicht das leichtfertige Verhalten der Behörden nur eine Maskierung ihrer wirklichen Absichten? Plante der Stab nicht unter dem Schein bürokratischer Naivität, gegen das Militärische Revolutionskomitee einen überraschenden Schlag zu führen? Einen solchen Überfall seitens der verwirrten und demoralisierten Organe der Provisorischen Regierung hielt man im Smolny für wenig wahrscheinlich. Immerhin traf das Militärische Revolutionskomitee die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen: in den nächstgelegenen Kasernen wachten Tag und Nacht Kompanien unter Waffen, bereit, auf das erste Alarmsignal hin dem Smolny zu Hilfe zu kommen.
Trotz dem abgesagten Kirchgang prophezeite die bürgerliche Presse für den Sonntag Blutvergießen. Eine Versöhnlerzeitung meldete am Morgen: "Die Behörden erwarten für den heutigen Tag Demonstrationen mit größerer Wahrscheinlichkeit als am 20." So bereits zum drittenmal während einer Woche: den 17., 20. und 22., täuschte der lügenhafte Knabe das Volk durch den falschen Alarm "ein Wolf!" Das viertemal wird der Knabe, glaubt man der alten Fabel, dem Wolf zwischen die Zähne geraten.
Die Presse der Bolschewiki rief die Massen zu Versammlungen auf und sprach von friedlicher Musterung der revolutionären Kräfte am Vorabend des Sowjetkongresses. Das entsprach durchaus der Absicht des Militärischen Revolutionskomitees: Durchführung einer gigantischen Truppenschau, ohne Zusammenstöße, ohne Anwendung von Waffen und sogar ohne deren Demonstrierung. Man mußte der Masse die Möglichkeit geben, sich selbst zu sehen, ihre Zahl, ihre Stärke, ihre Entschlossenheit. Durch die Einmütigkeit der Vielheit wollte man die Feinde zwingen, sich zu verstek-ken, zu verbergen, nicht hervorzutreten. Durch die Entblößung der Ohnmacht der Bourgeoisie vor dem Massenaufgebot der Arbeiter und Soldaten sollten in deren Bewußtsein die letzten hemmenden Erinnerungen an die Julitage ausgelöscht werden. Man mußte erreichen, daß die Massen, sich erblickend, selbst erkannten: niemand und nichts kann uns mehr widerstehen.
"Die eingeschüchterte Bevölkerung", schrieb fünf Jahre später Miljukow, "blieb zu Hause oder hielt sich abseits." Zu Hause war die Bourgeoisie geblieben: sie war tatsächlich von ihrer Presse eingeschüchtert worden. Die ganze übrige Bevölkerung strebte seit dem Morgen zu Versammlungen: Junge und Alte, Männer und Frauen, Halbwüchsige und Mütter mit Kindern auf den Armen. Solche Meetings hatte es seit Beginn der Revolution noch nicht gegeben. Ganz Petrograd, mit Ausnahme der oberen Schichten, war ein durchgehendes Meeting. In den bis zur Absperrung überfüllten Räumen wechselte das Auditorium im Verlauf einiger Stunden. Neue und neue Wellen von Arbeitern, Soldaten und Matrosen rollten an die Gebäude heran und überfüllten sie. Das kleine Stadtvolk kam in wogende Bewegung, geweckt durch das Geheul und die Warnungen, die es hatten einschüchtern sollen. Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des Volkshauses, ergossen sich durch Korridore in dichter, erregter und gleichzeitig disziplinierter Masse, füllten Theatersäle, Gänge, Büfetts, Foyers. An ehernen Säulen und Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfe, Beine, Arme. Die Luft war von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nieder mit Kerenski! Nieder mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer der Versöhnler wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen oder Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bol-schewiki. Sämtliche Rednerkräfte der Partei einschließlich der zum Kongreß eingetroffenen Provinzdelegierten waren auf die Beine gebracht. Manchmal sprachen linke Sozialrevolutionäre, hie und da Anarchisten. Doch die einen wie die anderen waren bemüht, so wenig wie möglich von den Bolschewiki abzustechen.
Stundenlang standen Menschen aus entlegenen Stadtteilen, aus Kellerwohnungen und Dachstuben, in verschlissenen Mänteln und grauen Uniformen, mit Mützen und schweren Tüchern auf den Köpfen, mit Schubzeug, in das der Straßenschlamm eindrang, mit
Weitere Kostenlose Bücher