Geschichten aus der Murkelei
jämmerliches Leben führe ich doch eigentlich! Überall sind Fallen für mich aufgestellt, ich kann nicht achtsam
genug gehen und muß stets meine Augen überall haben. Finde ich aber wirklich einmal einen schönen, lecker gebratenen Fleischbrocken
und freue mich auf das gute Essen, so muß ich schließlich stets das böse Gift in ihm riechen und ihn liegenlassen. Immerwährende
Sorge und Hunger und Angst sind mein Leben. Wie gut haben es dagegen die Tiere, die sich unter den Schutz des Menschen gestellt
haben, der Hund, die Katzen, die Schweine, Kühe und Pferde. Pünktlich alle Tage bekommen sie ihr Futter, ja, der Mensch putzt
ihnen sogar das Fell und sorgt für ihr warmes Bett. Sogar die Vögel, die ihm den Sommer hindurch mit Picken und Naschen doch
gewiß Schaden genug tun, vergißt er nicht und füttert sie den ganzen Winter hindurch. Was solch jämmerliche Kohlmeise bekommt,
das steht mir doch auch gewiß zu, und so will ich denn meinen |124| Frieden mit dem Menschen machen und Freundschaft mit ihm schließen.«
Als die Ratte sich das überlegt hatte, paßte sie einen Augenblick ab, in dem der Hund nicht achtgab, und lief eilig vom Stall
über die Hofstatt zum Wohnhaus. Nein, wie schön warm und gemütlich ist das hier! dachte sie bei sich, als sie ins Zimmer kam.
Viel besser als in meinem kalten, dunklen Stall. Hier will ich gewiß bleiben. Und sie pfiff freundlich.
Der Hausherr, der grade mit seiner Familie beim Essen saß, hörte das Pfeifen, blickte auf und sah die Ratte. »Nein, so was!«
rief er, sprang auf und hielt die Gabel in der Hand, »kommt einem das Teufelsgetier nun gar schon ins Haus gelaufen! Na, warte!«
Und er schickte sich an, mit der Gabel nach der Ratte zu werfen.
»Bitte, einen Augenblick!« sprach die Ratte. Sie hatte sich auf die Hinterbeine gesetzt und sprach so manierlich, wie es nur
eine alte Ratte kann. »Ich komme nämlich in Geschäften und möchte einen Vertrag mit dir machen, Hausherr! Ich habe mir das
überlegt: Ich will mich jetzt bessern und Frieden mit dir schließen.«
»Nanu!« sagte erstaunt der Hausherr.
»Ja«, sprach die Ratte feierlich und verdrehte vor Rührung über ihren eigenen Edelsinn die Augen im Kopf, daß ihr fast die
Tränen kamen. »Ich verspreche feierlich: Ich will im Stall keine Gänge mehr graben. Ich will den Schweinen das Futter nicht
mehr wegfressen, und ich will auch die Ferkelchen nicht mehr annagen, wenn sie noch so rosig sind.« Der Ratte kamen nun wirklich
die Tränen, als sie aufzählte, auf was alles sie verzichten wollte, bloß um mit den Menschen Frieden zu schließen.
»Schön von dir, Ratte!« sprach der Hausherr. »Aber ich glaube dir nicht. Du führst bestimmt etwas Böses im Schilde.«
Die Ratte versicherte, sie tue das nicht. Eine Gegenleistung, |125| freilich nur eine kleine, müsse sie allerdings verlangen, daß sie nämlich hier im Hause wohnen dürfe und dreimal täglich ihr
reichliches Futter bekomme. »Gebratenes Fleisch esse ich sehr gerne«, sprach die Ratte bescheiden. »Und wenn es ein bißchen
stinkerig ist, schmeckt es mir noch besser.«
»Ach so, Ratte!« lachte der Hausherr. »Das verlangst du also? Das Leben im Stall ist dir wohl unter all den Fallen und dem
Gift ein bißchen zu gefährlich geworden? Nein, Ratte, daraus kann nichts werden, wir beide, Mensch und Ratte, wir müssen Feinde
bleiben.«
»Nun«, sagte die Ratte höflich. »Ich verlange nichts Unbilliges. Du gibst ja auch den andern Tieren, die sich unter deinen
Schutz begeben haben, Essen und Wohnung.«
»So hast du dir das also gedacht«, sprach der Hausherr. »Aber du hast vergessen, Ratte, daß zwischen dir und den andern Tieren
ein großer Unterschied besteht. Sie bekommen ihr Futter ja nicht umsonst, sie tun auch etwas dafür. Das Pferd spann ich vor
meinen Wagen, und es zieht Lasten oder den Pflug durch das Land. Die Kuh gibt mir Milch und alle Jahre auch noch ein Kälbchen
dazu. Das Schwein beeilt sich, groß und fett zu werden, damit ich nur bald wieder Wurst und Schinken habe. Unermüdlich paßt
der Hund Tag wie Nacht auf, daß sich kein Dieb auf den Hof schleicht, jeden Fremden meldet er mit lautem Gebell an. Auf leisen
Pfoten pirscht die Katze durch das Haus, immer bemüht, mich vor Mäuseschaden zu bewahren – und was tust du für mich, Ratte,
daß ich dir dafür Kost und Wohnung geben soll –?«
So frech die Ratte sonst war, jetzt schaute sie doch etwas verlegen drein. Denn auf
Weitere Kostenlose Bücher