Geschichten von der Bibel
Brunnen.
Er zog den Eimer aus dem Brunnen und trank und trank und trank – und bemerkte nicht, daß inzwischen Labans Tochter Rahel an den Brunnen getreten war. Wie alt war Rahel? Vierzehn? Vielleicht fünfzehn …
Rahel beobachtete den Fremdling, gab den Hirten Zeichen zu schweigen, hörte lächelnd zu, wie Jakob schluckte und prustete und vor Freude kreischte, weil er endlich, endlich trinken konnte.
Als Jakob sah, daß er von dem Mädchen beobachtet wurde, schämte er sich noch mehr seiner Blöße, er hielt seine Hände vor die Scham, und er sah, daß Rahel wunderschön war, und er war plötzlich ausgefüllt von Liebe, als wäre er bisher nur eine leere Hülle gewesen. Rahel war gekommen, um die Wäsche am Brunnen zu waschen, sie warf Jakob kichernd ein Gewand zu. Er zog es über.
Diese Szene erinnert uns an Odysseus und Nausikaa, die Prinzessin der Phäaken. Im sechsten Gesang der Odyssee findet Nausikaa am Ufer des Meeres den angeschwemmten Odysseus, auch er ist nackt, auch er ist am tiefsten Punkt seiner Existenz angekommen. Und Nausikaa gibt ihm ein Gewand.
Wie Odysseus steht nun auch Jakob in einem Mädchenkleid da. Und von nun an wird für lange Zeit nichts mehr gelten, was in seinem bisherigen Leben gegolten hat.
Rahel führt Jakob zu ihrem Vater Laban.
Und er sagt zu Laban: »Ich bin durch die Wüste gegangen, um mit dir zu sprechen.«
»Was möchtest du?« fragt Laban.
»Ich bin der Sohn deiner Schwester Rebekka. Sie schickt mich mit Grüßen, du sollst mir eine deiner Töchter zur Frau geben.«
Laban bleibt ungerührt. »Ihr seid mir noch die Hälfte des Brautgeldes schuldig, das ihr mir versprochen habt.«
»Ich habe damit nichts zu tun«, sagt Jakob. »Ich möchte deine Tochter Rahel zur Frau haben. Sie hat mir Wasser gegeben, als ich am Verdursten war, und sie hat mir ein Gewand gegeben, als ich nackt war.« Und um seinem Wunsch metaphysischen Nachdruck zu verleihen, fügte er hinzu: »Gott, der Herr, hat mich durch die Wüste geführt, er ist mir im Traum erschienen und hat mir von deiner Tochter erzählt.«
Letzteres war freilich erfunden. Aber Laban ließ sich nicht beeindrucken, entweder er glaubte Jakob nicht, oder Gott selber bedeutete ihm nichts, oder er zeigte seine Gefühle nicht.
Er sagte: »Meine Tochter Rahel willst du also haben. Du weißt vielleicht nicht, daß Rahel das begehrteste Mädchen im Land und weit darüber hinaus ist.«
Jakob sagte: »Ich weiß das nicht, ich habe sie nur gesehen.«
Laban sagte: »Wenn du sie gesehen hast, dann weißt du, daß ich nicht übertreibe. Du hast sicher viele Geschenke mitgebracht, du kannst dir ja vorstellen, wieviel Brautgeld ein Mädchen wie Rahel wert ist.«
Und Jakob mußte sagen: »Ich stehe vor dir. Das ist alles.«
Da umarmte ihn Laban. Er umarmte ihn nicht aus Liebe, wie ein Onkel seinen Neffen umarmt. Er umarmte ihn, um ihn abzutasten, ob er nicht irgendwo am Körper Gold versteckt hätte. Und er küßte ihn, um zu sehen, ob er nicht vielleicht Perlen in seinem Mund versteckt hatte.
»Laß das«, sagte Jakob. »Ich habe gar nichts.« Und er log schon wieder: »Elifas, der Sohn meines Bruders Esau, hat mich unterwegs überfallen und hat mir all die wertvollen Geschenke weggenommen, die ich dabei hatte, die ich dir geben wollte für deine Tochter Rahel.«
Laban war enttäuscht. »Du hast nichts für mich? Und ich soll etwas für dich haben? Ich kann dir meine Tochter nicht geben. Du kannst ein paar Tage bei uns bleiben und essen und trinken, das verdankst du meiner Großzügigkeit, aber dann mußt du in die Wüste zurück.«
»Ich werde für deine Tochter arbeiten«, sagte Jakob.
Laban sah sich Jakob an. An ihm war nicht viel. Keine Muskeln. Wie hätten Muskeln an Jakob auch wachsen sollen? Durch Spekulieren und Philosophieren und Meinungenbilden?
»Ich werde sieben Jahre für Rahel arbeiten«, sagte Jakob. »Ich bin stärker, als ich aussehe. Frag deine Hirten! Ich habe allein, ohne Hilfe, den Stein vom Brunnen gewälzt.«
Die Hirten bestätigten es.
Da befragte Laban seine Ratgeber, und die sagten: »Dieser Jakob scheint ein Glücksmensch zu sein. Es wird dir, Laban, guttun, wenn du ihn aufnimmst. Es wird dich reich machen, wenn er sieben Jahre für dich arbeitet.«
Laban hatte keinen guten Charakter. Die Nachbarn gingen ihm aus dem Weg. Händler mieden ihn. Er bekam weder Vorschüsse, noch wurde ihm Kredit gegeben. Er behandelte sein Vieh schlecht, und er behandelte seine Knechte schlecht. Die Knechte verließen
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