Geschlossene Gesellschaft
und fuhr fort. »Ich war damals acht Jahre beim Topical. Noch bevor Lord Northcliff das Blatt kaufte. Er versuchte es in eine zweite Daily Mail zu verwandeln, was ihm aber nie ganz gelang. Alle Zeitungsbesitzer leiden etwas unter Größenwahn, aber in Northcliffs Fall handelte es sich um einen ausgewachsenen Napoleonkomplex. Glücklicherweise bekam ich ihn kaum zu Gesicht. Ich war immer zu irgendeiner europäischen Hauptstadt unterwegs und berichtete über die jüngste nationale Krise. Sie flammten auf wie Brände in einem ausgedörrten Wald. Am schlimmsten war es auf dem Balkan. Aber ich zweifelte nie daran, dass man sie hätte niedertreten können. Keiner der Diplomaten und Politiker, die ich in all den Jahren interviewte, wollte einen Krieg. Warum sollte es also einen geben?«
»Ich habe immer angenommen, dass die Deutschen darauf gebrannt haben.«
Er grunzte. »Dann wissen Sie nicht viel. Woher auch? Wenn man versucht, zehn Millionen Tote zu erklären, kann man mit diesem Gedanken beruhigt hausieren gehen: Schuld an allem hat Kaiser Wilhelm.«
»Wer ist denn Ihrer Meinung nach verantwortlich?«
Als er mich anschaute, umspielte kurz ein finsteres Grinsen seine Lippen. Dann schaute er stur geradeaus. »Während Sie in Winchester Schwule eingeschüchtert haben, Mr. Horton, entstanden in Europa zwei bewaffnete Lager. Keines der beiden wollte kämpfen oder sein Gesicht verlieren. Es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, dies immer wieder hinauszuschieben, aber man hätte es schaffen können. Man hätte es schaffen müssen.«
»Wollen Sie mir jetzt erzählen, warum man es nicht geschafft hat?«
»Ja.«
»Und hat das etwas mit Charnwood zu tun?«
»Etwas? Ja, ich nehme an, das kann man sagen. Ich vermute ...« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Hören Sie einfach zu, ja? Halten Sie den Mund, und sperren Sie die Ohren auf.«
Ich musste mich zusammennehmen, um nicht ebenso barsch zu antworten, aber ich wusste, dass ich mit Beleidigungen nichts aus diesem Mann herausbekommen würde. Er wollte reden. Aber zu seinen Bedingungen, Bedingungen, die ich akzeptieren musste. »Einverstanden«, sagte ich leise. »Gut. Es war so. In Österreich-Ungarn gab es mehr Serben als in Serbien selbst. Also fürchteten Kaiser Franz Josef und seine Ratgeber eine Revolution innerhalb ihrer Grenzen, besonders in Bosnien, falls Serbien noch mächtiger würde. Vielleicht auch nur, wenn Serbien einfach weiterexistierte. Aber was sollten sie tun ? Ein Angriff auf Serbien bedeutete Krieg mit Russland. Deutschland würde Österreich zwar unterstützen, aber dann würde Frankreich Russland helfen. Sollte Deutschland Frankreich angreifen, würde ihm England zur Seite springen. Das Ergebnis: Weltkrieg. Und selbst wenn sie glaubten, am Ende auf der Seite der Sieger zu stehen, wo war der Vorwand, einen Krieg zu beginnen? Wo war der gerechte und ehrenvolle Grund?
Selbst Sie müssen die Antwort kennen. Die Ermordung von Franz Josefs Erben, dem Erzherzog Franz Ferdinand, am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Ich wurde am nächsten Tag nach Wien geschickt, um über die Beisetzung und die diplomatischen Auswirkungen zu berichten. Diese schienen ziemlich klar zu sein. Ein serbischer Student hatte den tödlichen Schuss abgegeben. Wenn er dazu von der serbischen Regierung angestachelt worden war, dann musste der Kaiser einen Krieg führen, um seinen Neffen zu rächen. Aber in der Politik Österreich-Ungarns war nie etwas klar. Soviel wusste ich von verschiedenen vorherigen Besuchen. Franz Ferdinand war ein schwieriger und weitgehend unbeliebter Mann. Eine Menge Menschen waren klammheimlich froh darüber, dass er tot war. Und wenn die serbische Regierung beweisen konnte, dass sie saubere Hände hatte...« Er zuckte mit den Schultern. »Dieses Feuer war nicht größer als viele andere zuvor. Es war kontrollierbar und löschbar. Während der Beerdigung wurde verdächtig wenig getrauert und geweint. Ein Leibwächter des Erzherzogs beging Selbstmord, beschämt darüber, dass er nicht mit ihm in Sarajevo gestorben war. Aber es gab keine anderen großen Gesten oder blutdurstigen Reden. Die offizielle Reaktion war ruhig und gemessen. In Sarajevo wollte man die Ergebnisse einer polizeilichen Untersuchung. In der Zwischenzeit wurden keine Armee-Einheiten aus dem Urlaub zurückgeholt. Der Chef des Generalstabs und der Kriegsminister traten ihre Sommerurlaube auf ihren Landsitzen an. Und wir Journalisten lungerten in Wiener Cafes herum, tranken Kaffee, lasen beruhigende
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