Geschöpfe der Nacht
unwiderstehlicher Macht trieb, diese schrecklichen Phantasien zu erzählen – vielleicht, weil ich der erste war, dem er sein Herz auszuschütten wagte. Um ihn zum Schweigen zu bringen, hätte ich ihn töten müssen.
»In letzter Zeit«, fuhr er mit einem hungrigen Flüstern fort, das meinen Schlaf für den Rest meines Lebens heimsuchen würde, »konzentrieren all diese Träume sich auf meine Enkelin. Brandy. Sie ist zehn. Ein hübsches Mädchen. Ein sehr hübsches Mädchen. So schlank und hübsch. Und was ich in meinen Träumen mit ihr anstelle… ach, was ich mit ihr anstelle. Du kannst dir solch eine gnadenlose Brutalität nicht vorstellen. Solch einen brillanten, bösartigen Einfallsreichtum. Und wenn ich aufwache, verspüre ich mehr als nur ein Hochgefühl. Erhabenheit. Einen Rausch. Ich liege im Bett, neben meiner Frau, die schläft, ohne zu ahnen, welch seltsame Gedanken Besitz von mir ergriffen haben, die es auf keinen Fall wissen kann, und ich bebe vor Macht, vor dem Bewußtsein, daß die absolute Freiheit mir jederzeit zur Verfügung steht, wenn ich sie ergreifen will. Jederzeit. Nächste Woche. Morgen. Jetzt .«
Über uns sprach der stumme Lorbeerbaum, als kurz hintereinander mindestens zwei Dutzend seiner spitzen grünen Zungen unter dem zu groß gewordenen Gewicht des kondensierten Nebels zitterten. Alle gaben auf einmal ihre jeweilige wäßrige Mitteilung von sich, und ich zuckte bei dem plötzlichen Trommelwirbel fetter Tropfen zusammen, die auf den Wagen schlugen, halbwegs überrascht, daß es sich bei dem, was die Windschutzscheibe hinab und über die Motorhaube floß, nicht um Blut handelte.
In der Jackentasche schloß ich die rechte Hand fester um die Glock. Nach allem, was Stevenson mir erzählt hatte, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, daß er mir erlauben würde, diesen Wagen lebend zu verlassen. Ich verlagerte leicht mein Gewicht auf dem Sitz, die erste mehrerer kleiner Bewegungen, die ihn nicht mißtrauisch machen, mich aber in die Lage versetzen würden, ihn durch die Jacke zu erschießen, ohne die Pistole aus der Tasche ziehen zu müssen.
»Letzte Woche«, flüsterte der Chief, »ist Kyra mit Brandy zum Abendessen zu uns gekommen, und es war mir fast unmöglich, den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Als ich es ansah, war es in meiner Vorstellung nackt, wie es das in meinen Träumen immer ist. So schlank. So zerbrechlich. Verletzbar. Ihre Verletzbarkeit erregte mich, ihre Zartheit, ihre Schwäche, und ich mußte meinen Zustand vor Kyra und Brandy verbergen. Vor Louisa. Ich wollte… wollte… mußte… «
Sein plötzliches Schluchzen erschreckte mich. Wellen der Trauer und Verzweiflung durchflossen ihn wieder, wie sie ihn durchspült hatten, als er mit seiner Erzählung angefangen hatte. Sein unheimliches Verlangen, seine obszöne Gier wurden in dieser Flut des Elends und Selbsthasses ertränkt.
»Ein Teil von mir will, daß ich Selbstmord begehe«, sagte Stevenson, »aber nur der kleinere Teil, der kleinere und schwächere, das Bruchstück, das noch von dem Mann vorhanden ist, der ich einmal war. Das Raubtier, zu dem ich geworden bin, wird sich nie umbringen. Nie. Es ist zu lebendig .«
Er hob die linke, zur Faust zusammengeballte Hand an den geöffneten Mund und rammte sie sich zwischen die Zähne, biß so fest auf die geballte Faust, daß es mich nicht überrascht hätte, wenn Blut geflossen wäre. Er biß und würgte das erbärmlichste Schluchzen zurück, das ich je gehört hatte.
In dieser neuen Person, zu der Lewis Stevenson geworden zu sein schien, lag nichts mehr von der Ruhe und Gelassenheit, die ihn stets zu einem so glaubwürdigen Vertreter von Gesetz und Ordnung gemacht hatten. Zumindest nicht heute nacht, nicht, solange eine so düstere Stimmung ihn quälte. Ständig schienen ihn starke Gefühle zu durchfließen, eine Strömung nach der anderen, und die Flut wurde nicht von ruhigem Wasser unterbrochen, sondern hämmerte unentwegt auf ihn ein.
Meine Furcht vor ihm ließ nach und wich Mitleid. Fast hätte ich die Hand ausgestreckt und ihm tröstend auf die Schulter gelegt, aber ich riß mich zusammen, weil ich spürte, daß das Ungeheuer, dem ich vor einem Moment noch zugehört hatte, nicht verschwunden oder auch nur an die Kette gelegt worden war.
Er nahm die Faust aus dem Mund, wandte mir den Kopf zu und enthüllte ein Gesicht, das von solch abgrundtiefem Schrecken verzerrt wurde, solchen Qualen des Herzens und Verstandes, daß ich wegsehen mußte.
Er sah
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