Geschöpfe der Nacht
beobachtet hatte, mit Unbehagen betrachtete.
Ich radelte sowohl an dem Pfarrhaus als auch an der Kirche vorbei, auf den Friedhof, unter die Eichen und zwischen die Gräber. Noah Joseph James, der vom Geburtstag bis zum Sterbebett sechsundneunzig Jahre gehabt hatte, war genauso schweigsam wie immer, als ich ihn begrüßte und mein Rad gegen seinen Grabstein lehnte.
Ich löste das Handy von meinem Gürtel und tippte die Nummer der öffentlich nicht verzeichneten zweiten Leitung ein, die direkt in den Senderaum von KBAY führte. Ich vernahm vier Klingelzeichen, bevor Sasha abhob, aber im Studio selbst war kein Geräusch erklungen, wie ich wußte: Lediglich eine aufblitzende blaue Lampe an der Wand ihr gegenüber, wenn sie hinter dem Mikrofon saß, machte sie auf eingehende Anrufe aufmerksam. Sie nahm das Gespräch entgegen, indem sie es in die Warteschleife legte, und während ich wartete, konnte ich über die Leitung ihre Sendung hören.
Orson schnüffelte wieder nach Eichhörnchen.
Nebelgestalten trieben wie verlorene Geister zwischen den Grabsteinen.
Ich hörte zu, während Sasha zwei »Doughnut«-Werbespots von je zwanzig Sekunden abspulte. Dabei handelt es sich nicht um Reklame für Doughnuts, sondern um Spots mit einem aufgezeichneten Anfang und Ende, die in der Mitte Raum für Livematerial lassen. Den füllte sie mit ein paar glatten Sprüchen über Elton John, und dann spielte sie »Japanese Hands«. In die ersten fünf oder sechs Takte des Songs sprach sie mit ihrer samtenen Stimme hinein, dann verstummte sie. Offensichtlich war das Chris-Isaak-Festival beendet.
»Ich spiele zwei Songs hintereinander«, sagte sie, nachdem sie mich aus der Warteschleife geholt hatte. »Du hast also gut fünf Minuten, Baby.«
»Woher hast du gewußt, daß ich es bin?«
»Nur eine Handvoll Leute haben diese Nummer, und die meisten davon schlafen zu dieser Stunde. Außerdem habe ich eine tolle Intuition, wenn es um dich geht. In dem Augenblick, wo ich das Telefonlicht aufblitzen sah, fingen meine unteren Teile an zu kribbeln.«
»Deine unteren Teile?«
»Meine unteren weiblichen Teile. Ich kann es nicht erwarten, dich zu sehen, Snowman.«
»Das mit dem Sehen wäre ein guter Anfang. Hör zu, wer arbeitet diese Nacht sonst noch?«
»Doogie Sassman.« Er war ihr Toningenieur und saß hinter dem Pult.
»Ihr beide seid allein dort?« fragte ich besorgt.
»Bist du plötzlich eifersüchtig geworden? Wie süß. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich kann Doogies hohe Ansprüche nicht erfüllen.«
Wenn Doogie nicht auf seinem Stuhl am Audiokontrollpult parkte, schlang er seine gewaltigen Beine die meiste Zeit über um eine Harley-Davidson. Er war eins achtzig groß und wog drei Zentner. Sein volles, ungezähmtes blondes Haar und der von Natur aus wellige Bart waren so üppig und seidig, daß man dem Drang, ihn zu streicheln, kaum widerstehen konnte, und die bunten Wandgemälde, die praktisch jeden Zentimeter seiner Arme und des Oberkörpers bedeckten, hatten so manchem Tätowiererkind das Studium finanziert. Sasha hatte nicht unbedingt damit gescherzt, sie entspräche nicht seinen Ansprüchen. Beim anderen Geschlecht hatte er mehr bärenhaften Charme als Pu der Bär in der zehnten Potenz. Seit ich ihn vor sechs Jahren kennengelernt hatte, waren alle der vier Frauen, mit denen er etwas gehabt hatte, so umwerfend gewesen, daß sie in Jeans und Flanellhemden – ohne Make-up – auf der Oscarverleihung hätten aufkreuzen können und trotzdem jedes atemberaubende Starlet bei der Feier in den Schatten gestellt hätten.
Bobby behauptet, daß Doogie Sassman entweder seine Seele dem Teufel verkauft hatte, der geheime Herr der Universums war, die am erstaunlichsten proportionierten Genitalien in der Geschichte der Erde hatte oder Sexualpheromone produzierte, die stärker waren als die Erdanziehungskraft – suchen Sie sich etwas aus.
Ich war froh, daß Doogie heute nacht arbeitete, denn es steht außer Zweifel, daß er viel taffer war als alle anderen Toningenieure von KBAY zusammen.
»Ich hatte gedacht, außer euch wäre noch jemand da«, sagte ich.
Sasha wußte, daß ich nicht auf Doogie eifersüchtig war, und nun hörte sie die Besorgnis in meiner Stimme. »Du weißt doch, wie eng hier alles geworden ist, seit Fort Wyvern dichtgemacht hat und wir beim Nachtprogramm die Zuhörer vom Militär verloren haben. Selbst mit der Minimalbesetzung verdienen wir in der Nachtschicht kaum noch einen Cent. Was ist los,
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