Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)

bei dem Feuer hatten sie vor, uns alle zu vernichten. Heute hatten sie dabei ziemlich gute Arbeit geleistet.
    Raus hier , hörte ich mit jedem Schlag meines Herzens. Raus hier, raus hier.
    Sean folgte meinem Blick. »Beeilt euch«, sagte er und lief los.
    Ich humpelte zu Chase, stolperte aber unterwegs über die Beine eines Mannes, der sich an eine der Tunnelmauern lehnte. Seine Arme hingen kraftlos herab, sein Gesicht war beinahe schwarz vor Schmutz.
    »Jack?«
    Ich ruckelte an seinem Knie, nicht sicher, ob er tot war oder nur irgendwie weggetreten.
    »Jack!«, brüllte ich ihn dann an. Er krallte die Finger um die Ohren und verschmierte dabei ein blutiges Rinnsal, das an seinem Hals herabrann. Er konnte mich nicht hören.
    Ich ging näher an sein Gesicht heran. »Jack! Ich bin es, Ember. Wir müssen weg, verstehst du? Wir müssen hier raus!«
    Er blinzelte. Seine Lippen bewegten sich schwach. Ich beugte mich ganz dicht an seinen Mund heran.
    »Hau ab«, flüsterte er. »Wir wurden angegriffen. Mags ist gefallen. Hau ab.«
    Ich berührte seine Hand. Sie war eiskalt. Vage erinnerte ich mich, dass mir mal jemand erklärt hatte, das sei ein Zeichen für einen Schock. Hektisch rieb ich seine Arme in der Hoffnung, es würde helfen. Mein geschwollenes Handgelenk glühte vor Schmerz. Schließlich zog ich ihn vom Boden hoch, woraufhin er kraftlos an die Wand sackte.
    Endlich unterbrach ein anderer Laut sein Gemurmel. Er fing an zu lachen, was, in Anbetracht all der Rufe und des Stöhnens um uns herum, höchst verstörend war.
    »Die Heckenschützin«, gluckste er. Und dann lachte er erneut. »Die Heckenschützin aus Knoxville.«
    »Okay«, sagte ich. »Du hast recht. Es ist saukomisch.«
    Er hörte auf zu lachen und schüttelte den Kopf, als wollte er die Benommenheit vertreiben. »Wir müssen evakuieren.«
    »Jep«, stimmte ich zu und schob ihn den Gang hinunter. »Ich bin dir zwei Schritte voraus.«
    Die Nachricht verbreitete sich schnell. Dreißig Minuten, nachdem ich aus dem Geröll herausgeklettert war, funkte ein Kundschafter von oben die Sichtung von Soldaten auf dem Flugplatz. Sie kämmten das ganze Gelände durch auf der Suche nach einem sicheren Zugang zu den Tunneln. Dieses Vorgehen ließ wenig Interpretationsspielraum: Sie wussten, wie wir hineinkamen, was bedeutete, dass jemand – wie von Truck schon vermutet – uns verpfiffen hatte oder jemand verfolgt worden war. Ich hoffte, dass nicht wir sie zu dem Tunnelsystem geführt hatten.
    Als ich Jack weggebracht hatte, wollte ich zu Chase zurückkehren, aber der schoss bereits auf halbem Weg auf mich zu. Er ergriff meine gesunde Hand, und ich fühlte den schmierigen Schweiß und das Blut zwischen unseren Handflächen. Ohne ein weiteres Wort rannten wir mit pochenden Herzen in Richtung Ausgang. Und nicht für einen Moment ließ er mich los.
    Als wir uns der Baracke und dem Fluchtweg näherten, wurden die Schuttberge langsam kleiner, doch in der Decke grollte es erneut. Ein weiterer Einsturz stand unmittelbar bevor. Wir konnten gar nicht schnell genug laufen.
    Hinter uns krachte etwas – ein Beben infolge der Bombardierung, die das ganze Tunnelsystem geschwächt hatte. Das Donnern von Steinen und das Zischen aus geborstenen Rohren erschütterte meine Trommelfelle, und das Echo vibrierte in meiner Brust wie Schläge auf einer Basstrommel. Der Boden zitterte und schien zu wogen, und plötzlich waren wir auf einem Meer aus Sand und Steinen, klammerten uns aneinander und kämpften darum, auf den Beinen zu bleiben.
    Ich zwang mich, nicht zurückzublicken, aber ich wusste auch so, dass ein Erdrutsch auf uns zukam. Er verschlang jede verbliebene Laterne, bis hinter uns nur noch Schwärze war, und alles, was vor uns lag, waren Trümmer, die im tanzenden Lichtschein unserer Taschenlampen zum Vorschein kamen.
    Endlich kam die Baracke in Sicht. Truck hastete durch eine Metalltür mit der Aufschrift KESSELRAUM  – AUSGANG . Sean hatte auf uns gewartet und winkte uns zu, wir sollten uns beeilen. Wir rannten an ihm vorbei und prallten gegen die Leiber, die sich hinter der Tür stauten.
    »Halt! Hier geht’s lang!«, hörte ich Sean hinter mir brüllen. Als ich mich umdrehte, sah ich Tucker den Gang hinunterblicken, in die Richtung des Flugplatzzugangs, durch den wir in die Tunnel gekommen waren. Ein verzweifelter Ausdruck lag in seinen Zügen.
    Sean packte seinen Ärmel und riss ihn zu uns zurück, gerade in dem Moment, in dem der Erdrutsch die Baracke erreichte.