Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
eins. Hinter geschlossenen Lidern sah ich das Dach des Wayland Inn einstürzen.
»Und ich habe gesagt, Höflichkeit ist nichts wert, wenn man nichts zu essen hat. Und dann hat er mich gefragt, wie alt ich sei, und ich habe gesagt, ich wäre sechzehn, obwohl ich in Wirklichkeit erst elf war, und wo mein Vater sei, und ich habe ihm erzählt, dass er im Krieg gestorben wäre. Da ist dann sein Partner wieder aufgetaucht, und ehe er ein Wort gesagt hat, habe ich diesen Knall gehört. Und der fette Kerl ist tot umgefallen. Gleich da. Direkt vor mir.«
Es war, als wäre sämtliche Luft durch die Entlüftungsschlitze aus dem Laderaum entwichen. Ich zwang mich, nicht an den Schleuser aus der Rudy Lane zu denken, der vor unseren Augen ermordet worden war. Ich zwang mich, nicht an meine Mutter zu denken. Chase war wie erstarrt. Und, überraschenderweise, auch Tucker.
»Wallace hat seinen Partner umgebracht?«, hakte Tucker nach. »Das ist heftig.«
»Er hatte es verdient«, sagte Billy. »Das hat Wallace gesagt.«
Ich sah mich zu Tucker um, der Chase anstarrte, der wiederum Tucker anstarrte. Mir war unbehaglich. »Wallace und Riggins und … die anderen. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg zu dem sicheren Haus. Wallace hat uns immer erzählt, so wäre es geplant.« Billys Stimme brach.
Das Gefühl der Niedergeschlagenheit unter uns nahm zu. Ich rieb mir mit dem Handballen die Brust, aber die Spannung wollte sich nicht lösen.
Lincoln war tot. Ich konnte ihn klar vor mir sehen. Groß und drahtig. Tiefdunkle Sommersprossen. Wie mochte Houston damit zurechtkommen? Ich hatte sie nie ohne einander gesehen. Und ich fragte mich, ob Houston noch am Leben war.
Wallace. Riggins. Die Brüder. All die Jungs, die ihr Leben aufs Spiel setzten und heimkamen, um Poker zu spielen. Zu Asche verbrannt. In einem Krematorium von der Größe eines Motels.
»Menschen machen Dummheiten, wenn sie verzweifelt sind«, sagte ich leise zu Billy. Er hatte sich vorgebeugt und wühlte in der Kiste zwischen seinen Waden.
»Sie war nicht dumm«, entgegnete er. »Du weißt überhaupt nichts über sie.«
Nie zuvor hatte Billy so mit mir gesprochen.
»Ich wollte nicht …«
»Sie hat immer bekommen, was sie wollte. Immer.«
Ich schluckte. In mir tobte ein Aufruhr. Offensichtlich hatte Billys Mom ihn damals nicht zum ersten Mal »gemeldet«. Wallace war für Billy mehr als nur Familie. Wallace hatte ihm das Leben gerettet. Aber vielleicht hatten sie auch einander gerettet.
»Ich wünschte nur, meine Katze hätte nicht sterben müssen, weißt du?«, gestand er, wie um sich zu entschuldigen.
Der Lastwagen bog um eine Kurve, und wir alle hielten uns fest, bis er sich wieder aufgerichtet hatte. Die Geschwindigkeit nahm zu. Das Sirren der Reifen auf der Straße machte es mir schwer, an irgendetwas anderes zu denken als an die Gefahren, die draußen lauerten.
»Wir sind auf dem Highway«, bemerkte Chase.
Als Billy den Kopf hängen ließ, legte ich ihm einen Arm um die Schultern. Zaghaft, so, wie ich es Wallace einmal hatte tun sehen. Billy gab keinen Laut von sich. Ich glaube, außer mir ahnte niemand, dass er weinte.
Die Minuten zogen dahin, und mit jeder einzelnen zogen sich meine Muskeln noch mehr zusammen. Es war anstrengend, so nervös zu sein, so machtlos.
In dem düsteren Licht der Taschenlampe konnte ich nur die Silhouetten der anderen erkennen. Billy, der sich auf dem Boden zusammengerollt hatte und fest schlief. Chase weit vornübergebeugt. Tucker, der alle paar Minuten seine Haltung veränderte, unfähig, still zu sitzen. Was war gefährlicher? Den Mörder in diesem Käfig zu haben oder draußen?
Eine halbe Stunde verging, und mein Nacken verkrampfte sich. Ich ließ meinen Kopf kreisen. Das Wasser ging aus, und meine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier.
Eine Stunde. Niemand von uns wollte es beschreien, aber wir alle fingen an zu glauben, dass wir es geschafft hätten.
Als mir das Atmen wieder etwas leichter fiel, wurde mir der scharfe Geruch nach Schweiß, Blut und drückendem Rauch in dem Lastwagen qualvoll bewusst. Der Wagen war so schlecht belüftet, dass mir die stickige Luft Übelkeit bereitete. Ich lehnte mich an die kühlen Metallwände und ließ meine Knochen von den Vibrationen durchrütteln, die sich von der Straße auf das Fahrzeug übertrugen.
Ein Plan nahm langsam Gestalt an. Tubman würde uns an dem Checkpoint treffen, aber wir würden nicht zu dem sicheren Haus fahren. Rebecca war immer noch irgendwo in Chicago,
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