Gesetzlos - Roman
reihenweise für mich bereithielt.
Eine tiefe männliche Stimme, die vom Redefluss und Tonfall her affektiert klang, dabei aber von allerlei vulgären Intonationen entstellt wurde, sprach: »Dies ist eine Nachricht für Michel Nomen. Wenn Sie da sind, heben Sie in Ihrem eigenen Interesseund dem von Clara ab.« (Schweigen.) »In Ordnung. Ich rufe wieder an, um Ihnen mitzuteilen, was Sie zu tun haben, wenn Sie Ihre Nichte wiedersehen wollen, die wir heute um fünfzehn Uhr entführt haben. Muss ich betonen, dass jeglicher Kontakt zur Polizei verboten ist? Beim geringsten Verdachtsmoment ist sie tot. Nächster Anruf siebzehn Uhr.«
Knacken und Pfeifen des Anruf beantworters, dann breitete sich wieder die Stille aus.
Clara Nomen, entführt! Clara, auf die das Schicksal es am heutigen 24. Mai wahrlich abgesehen hatte!
Und auch auf mich … Vernichtende Schicksalsschläge, die der Teufel höchstpersönlich inszeniert hatte, stürzten heute auf mich herab, wie nimmersatte Raubvögel, die nicht von dem Kadaver lassen können, den sie mit ihren hässlichen Schnäbeln zerhacken und verschlingen (sodass die blutigen Fleischfetzen nur so durch die Luft fliegen), und sich nun erneut auf einen Menschen stürzen, der ihnen bereits in der Vergangenheit kulinarische Hochgenüsse bereitet hat, nämlich auf mich.
Ich verließ das Atelier und ging hinunter.
Im Park angekommen, schlich ich mich hasenfüßig und mit gespitzten Ohren zur Hecke, die das Grundstück teilte.
Auf der Seite von Maxime war niemand. (Wer würde sich über das Verschwinden meines Freundes beunruhigen, und innerhalb welchen Zeitraums?)
Was tun?
Ich beschloss – doch, wie man sich denken kann, hatte ich dies schon vorher beschlossen – bis siebzehn Uhr zu warten.
Ich kehrte zurück ins Haus. Ich ging auf und ab, von einem Fenster zum anderen. Ich dachte nach.
Vor dem Portrait blieb ich stehen, um es weiter zu betrachten. Dann fiel mein Blick auf eine Partitur, die aufgeschlagen auf dem Klavier lag, ein Lied von Gerhard van Turnhout (1520-1580, einem der zahlreichen Kapellmeister, die im Dienste von Philipp II. gestanden hatten), und ich sah, wie ich in einem Traumgespinstoder so, als würde ich selbst in einem breiteren Gemälde auftauchen (die Erinnerung an diese Szene finde ich faszinierend und erschreckend zugleich), ich sah, wie ich für die Schöne auf dem Portrait, Clara Nomen, die Worte des Liedes deklamierte.
Je prens en gré la dure mort
,
Pour vous madame, par amours
.
Navré m’avez mais a grand tort
,
Dont fineray de brief mes jours
.
La chose me vient à rebours:
Souffrir si tost la mort amere
,
O dure Mort, que faictes vous?
Mourir me faut, c’est chose clere
.
Diese Worte brauchte ich nicht mitzulesen (ganz unten auf der Seite standen sie, als Fußnote, ganz klein), ja nicht einmal aufzusagen, denn ich trug sie förmlich in mir, sie waren ein Teil von mir, sie waren in mich eingeschrieben. Man wird es schon ahnen, das Heft, das dieses Chanson von Turnhout enthielt, stammte aus der Sammlung (Nummer III) von Luis Archers Transkriptionen Alter Musik – und obwohl ich bei meiner Flucht aus Maximes Haus in das der Nomens von einer Welt in eine andere geflüchtet, war ich für die schöne Clara doch kein Unbekannter mehr – als hätte just in dem Moment irgendeine unsichtbare Herkulesfaust die Gleise meines Schicksals umgebogen.
Neben dem Klavier zeigte eine antike Pendeluhr die Stunden an.
Um sechzehn Uhr siebenundvierzig stieg ich erneut in Michel Nomens Atelier hinauf und wartete.
Um siebzehn Uhr klingelte das Telefon.
Ich hob ab.
Ich erkannte den Mann schon bei der ersten Silbe wieder:
»Michel Nomen?«
»Ja.«
»Haben Sie meine Nachricht gehört?«
»Ja.«
»Hören Sie mir bitte ohne Unterbrechung zu. Wie schon gesagt, wir haben Ihre Nichte entführt. Seien Sie ganz beruhigt, es geht ihr gut, sie wurde nicht misshandelt. Das wird aber nicht so bleiben, wenn Sie nicht aufs Wort gehorchen, ich habe Sie bereits gewarnt. Wenn Sie sie wiederhaben wollen, zahlen Sie dreihunderttausend Euro, so schnell wie möglich, noch heute Abend. Wieviel Zeit brauchen Sie – jetzt, sofort – um die Summe zusammenzubekommen und ins Opéra-Viertel zu fahren?«
Irgendetwas … irgendetwas war mit der Stimme des Mannes, der mit mir sprach, nicht in Ordnung, vielleicht lag es auch an dem, was er sagte, ich hätte es nicht benennen können, ein unmerkliches Zögern, das ich jedoch spürte, irgendeine falsche Note, eine kleine Lügenschelle,
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