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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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können, es wäre schon wieder die Jahreszeit, in der die Tage kürzer werden, ja, man fragte sich, ob dieser klägliche, kümmerliche, vorzeitig gealterte 24. Mai je sein natürliches Ende nehmen würde.
    Beim Motorlärm des angelassenen Lancias verzog ich das Gesicht aus Furcht, die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf mich zu lenken. Wie der Mund eines Unterwassertiers formten meine Lippen die Worte: »Leb wohl, Maxime!«, ohne einen Ton von sich zu geben.
    Ich fuhr los.
    Verglichen mit der Bedrängnis, die mein ganzes Wesen ergriff, als ich die Impasse du Midi verließ, konnte man die Schauspieler, die in einem Film über Minenfelder fuhren, als sorglose, fröhlich pfeifende Menschen bezeichnen.
    Rue de l’Église links, vorbei an der Notre-Dame-des-Anges, einem Bauwerk im plateresken Stil, wieviel Zeit würde vergehen, bevor ich ihre Bündelpfeiler, Sterngewölbe und Skulpturen wiedersehen würde, die ihre Fassaden so zahlreich und detailgetreu zierten, dass sie an Goldschmiedearbeiten erinnerten,
platero
auf Spanisch (daher »plateresker« Stil) (ich merke, ich hätte mehr über diese Kirche erzählen sollen, die Maxime und ich so oft besichtigt hatten – von innen war sie im Übrigen viel weniger interessant als von der Straße aus gesehen oder wenn man die Nase in die Luft gereckt um sie herumging – aber das ist nun passé), Boulevard Fléchère, Place des Deux-Lions, Pont de Créteil, Autoroute de l’Est (kaum mehr als hundert Meter, so lange wie der Asphalt und die Reifen brauchten, um sich wiederzuerkennen), dann die Quais, die ich im gemächlichen (»schwachen, doch emsigen«) Tempo entlangfuhr, um es ja nicht erst mit der Obrigkeit zu tun zu bekommen, einen Unfall zu riskieren und in eine Routinekontrolle zu geraten (»Öffnen Sie bitte den Kofferraum. Danke. Auch den Aktenkoffer bitte«), ich hatte Angst, zuweilen überkam mich ein Schluchzen wie ein Schluckauf, ich war verloren, in manchen Augenblicken wusste ich nicht mehr, was ich tat, noch warum ich es tat – und fand mich um achtzehn Uhr neun in meinem Wohnzimmer wieder, fünfte Etage links Nummer 49 a der Rue des Martyrs (nachdem ich die Kette vor die Eingangstür gehängt hatte, was ich sonst nie tat, und zwar so hektisch-nervös, als fürchtete ich, jemand könne während dieses kurzen Handgriffs die Tür eintreten), völlig perplex und außer Atem – zählte dort die dreihunderttausend Euro ab, die von dem grünen Aktenkoffer in einen fast neuen Koffer wanderten, den Marie-Pierre Valet-Michelet mir gegeben hatte, als ich aus Sevilla mit doppelt so vielen Sachen abgereist war, wie ich mitgebracht hatte (dieses Missgeschick passiert mir häufig), bevor ich den grünen Aktenkoffer und die verbleibenden siebenhunderttausend Euro auf dem obersten Brett eines Bücherregals verstaute (mit Wörterbüchern, in dem Flur, der am Bad vorbei zu den hinteren Räumen führte).
    Dann (unfassbare Unachtsamkeit!) fiel mir ein, dass dem Behälter der dreihunderttausend Euro ja das Los beschieden war, nie mehr von mir gesehen zu werden. Nun hing ich aber an dem hübschen Koffer, den man mir schließlich geschenkt hatte, man trennt sich nicht so einfach von einem Geschenk, also: erneutes Umladen der Geldbündel vom Koffer in Umschläge, die wiederum in eine große Plastiktüte gesteckt wurden.
    Ich war zwölf Minuten zu früh, als ich am Boulevard des Italiens am Crédit Lyonnais vorbeikam.
    Meine Augen verschlangen die Uhr.
    Ich blieb stehen und wartete acht Minuten – immer aufgewühlter, angespannter, fiebriger bei dem Gedanken, Clara Nomen erzählen zu müssen, durch welche Verkettung unglaublicher Umstände ich mich nun dort eingefunden hatte, ich, Luis Archer! – und ihr bedauerlicherweise auch den Tod ihres Onkels mitteilen zu müssen –, und nach diesen acht Minuten fuhr ich ohne Eile wieder los (obwohl ich auf der restlichen Strecke die Schallmauer am liebsten in Schutt und Asche gelegt hätte).
    Um neunzehn Uhr bog ich auf der Place de l’Opéra nach rechts und verrenkte mir den Hals, um auf der linken Seite die Fenster des Grand Café de l’Opéra abzusuchen.
    Ich erkannte die Haarpracht des Portraits auf den ersten Blick.
    Clara trug ein grünes Kleid. Sie saß im Profil und bewachte den Eingang des Cafés, auf ihren Onkel lauernd, dessen baldige Ankunft ihr die Entführer in Aussicht gestellt hatten …
    Ich gab Gas, fuhr das Gebäude des Opera an der Rue Halévy entlang, überquerte den Boulevard Haussmann, fuhr die Rue de la

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