Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
verschwinden wollte, ergänzte er: »Ich übernehme die Verantwortung.«
»Also gut!« Mathis seufzte, dann richtete er sich auf, als wollte er allen Mut sammeln, zu dem er fähig war. »Ich erledige das natürlich selbst.«
Erik sah ihm nach, wie er steifbeinig die Treppe hochstieg. Er war noch nicht oben angekommen, als der kleine Ole ihm entgegensprang. Mathis blieb stehen, drückte ihn kurz an sich, aber seine zärtliche Geste wurde von keinem Lächeln begleitet. Trotzdem lag so viel Zuwendung darin, dass Erik wegsehen musste. Er sah immer weg, wenn es etwas gab, was Mathis Feddersen sympathisch machte.
»Bist du fertig fürs Training?«, fragte Mathis. »Wir müssen gleich los.«
»Meine Tasche ist gepackt«, gab Ole fröhlich zurück und sprang die letzten drei Treppenstufen mit einem einzigen Satz herunter.
Sören schien plötzlich den Mut zu verlieren. »Glauben Sie wirklich, dass er es war?«, fragte er seinen Chef leise. »Was ist, wenn wir uns nur eine Menge Ärger einhandeln?«
»Er hat ein Motiv«, gab Erik zurück, aber auch seine Miene verriet, wie nervös er war. »Es sei denn, er kann uns die Sache mit dem Foto erklären.«
»Wenn er das kann, haben wir ein Problem!«
Die Staatsanwältin hatte am vergangenen Abend Überstunden gemacht und sich noch lange dem Star gewidmet. Aber zum Glück war sie dennoch der Ansicht, dass sie gegen acht Uhr dem Leiter der Ermittlungen zur Verfügung stehen musste, wenn er glaubhaft versicherte, dass die Angelegenheit von höchster Brisanz sei. Was natürlich nicht bedeutete, dass sie Erik und seinen Assistenten freundlich oder auch nur gnädig empfing.
Frau Dr. Speck war in Eriks Alter, einen Kopf kleiner als er und etliche Kilo leichter. Aber es war unverkennbar, dass sie ihre schlanke Linie nur mit großer Mühe und viel Disziplin hielt. Ein Monat Unachtsamkeit, Frustessen oder orientalische Küche – und die Staatsanwältin würde das sein, was die Natur für sie vorgesehen hatte: eine pummelige, gelockte Blondine. Das, was sie augenscheinlich unter allen Umständen zu vermeiden suchte. Sie glättete ihre Haare jeden Morgen mit einem Glätteisen, ließ das Pausbäckige unter dunklem Puderrouge verschwinden und trug die Kleidung erfolgreicher Business-Frauen, dunkle Kostüme, die ihre Figur streckten, und Hosenanzüge, die ihre Beine optisch verlängerten. Und bei jeder Gelegenheit betonte sie, dass Ehe und Familie nicht für sie infrage kämen, bestenfalls eine unverbindliche Lebensgemeinschaft.
Ob sie die mittlerweile eingegangen war, ob die Gerüchte über eine Affäre mit einem verheirateten Kommunalpolitiker der Wahrheit entsprachen, das alles wusste Erik nicht zu sagen. Er interessierte sich nicht für das Privatleben der Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte, und empfand Unwohlsein, als er mit dem der Staatsanwältin konfrontiert wurde.
Sören dagegen ließ neugierig den Blick über das ungemachte Bett wandern, aus dem der Zipfel eines dunkelroten Pyjamas heraussah, über den Dan-Brown-Schmöker, der auf dem Nachttisch lag, die Kostümjacke, die an einem Haken hing, das umfangreiche Lippenstiftsortiment, das auf der Fensterbank aufgebaut worden war, und die »Gala«, die keiner der beiden im Hotelzimmer der Staatsanwältin vermutet hatte.
»Haben Sie den Brieföffner gefunden?«, fragte sie. »Oder den hölzernen Engel? Das hätten Sie mir ruhig in zwei Stunden erzählen können.«
Erik schüttelte den Kopf. Er brauchte eine Weile, bis er sich an ihr ungeschminktes Gesicht, an die ungeordneten Locken und die nackten Füße gewöhnt hatte. Ihr ungehaltener Blick war ihm zur Genüge bekannt, an ihm hielt er sich fest, als er der Staatsanwältin erklärte, welche Entdeckung er gemacht hatte. Konsequent sah er ihr in die zornigen Augen, während er ihr die beiden Fotos vorlegte. Auch dann noch, als aus dem Zorn endlich Überraschung und dann tiefe Betroffenheit wurde. Sie schob das Foto, das am Tatort gefunden worden war, auf der Tischplatte hin und her und wagte es schließlich, das Bild aus Eriks privatem Fotoalbum zum direkten Vergleich daneben zu legen.
Erik hatte das Gefühl, Frau Dr. Speck die Sache noch einmal erklären zu müssen. »Meine Frau und ich waren 1997 in New York, damals stand das World Trade Center noch. Und als Manuel Zöllner 1999 im Montblanc-Tunnel ums Leben kam, stand es auch noch. Aber auf diesem Foto …« Er pochte auf das Bild, das Severin Dogas mit seinem Sohn zeigte. »… sieht man es nicht mehr. Es muss
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