Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
konnte Severin Dogas die Kälte nicht mehr ertragen und hob den Kopf. »Ja, es stimmt«, sagte er. »Mein Sohn lebt.«
Erik löste sich von dem Bettpfosten, an dem er gelehnt hatte, und ließ sich auf der Bettkante nieder, Sören hockte sich auf die Fensterbank, die Staatsanwältin nahm Severin Dogas gegenüber an dem wackligen kleinen Tisch Platz.
»Erzählen Sie«, bat sie mit leiser Stimme.
Severin Dogas holte tief Luft und fuhr sich durch die Haare. Erik erfasste Unruhe, als er sich aufrecht hinsetzte, als baute er seine Stütze auf, als er das Gesicht seinem Publikum zuwandte und so konzentriert aussah, als legte er sich seinen Text zurecht. Was für eine Vorstellung würden sie zu sehen bekommen?
Sie begann mit einem Prolog. Den Blick ins Nirgendwo gerichtet, das Gesicht von Schwermut gezeichnet und mit einer Stimme, in der das Schuldbewusstsein schwankte, ein sanftes Timbre aber um Verständnis warb, ließ Severin Dogas verlauten, wie leid es ihm tue, die Öffentlichkeit hintergangen zu haben, dass er aber eigentlich schuldlos daran sei, denn er habe ja selbst erst Monate nach dem Unglück im Montblanc-Tunnel die Wahrheit erfahren. Dass er dann nichts getan habe, um sie ans Licht zu tragen, könne man ihm vorwerfen, selbstverständlich, aber dürfe man wirklich einen Vater verachten, der es nicht über sich gebracht habe, den Sohn zu verraten?
Die Staatsanwältin hatte bereits wieder diesen Blick aufgesetzt, der vermuten ließ, dass sie auf eine tollkühne Fehlentscheidung zusteuerte, die sie den Kopf kosten konnte. Da auch Sörens Gesicht eine feierliche Miene trug, sah Erik sich genötigt, die Fahnen der Zweifler hochzuhalten. Mit harschen Worten, damit Dogas’ Sicherheit sich nicht an den Augen der beiden anderen entflammte, bat er um Beginn des ersten Aktes. »Genug der Einleitung! Was ist genau passiert?«
Die schauspielerische Leistung war wirklich beachtlich. In Severin Dogas’ Mundwinkeln hing ein kleines, tapferes Lächeln, als er begann, von seinem Sohn zu erzählen, von der Liebe, mit der er großgezogen worden war, von den Hoffnungen, die seine Eltern in ihn gesetzt hatten, von der Enttäuschung, als ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden. »Meine arme Donata! Wie hat sie sich um den Jungen gesorgt! Manuel war leider sehr unstet. Wir waren so froh, als er sich mit einem jungen Immobilienmakler anfreundete und Spaß an dessen Arbeit fand. Und wie glücklich waren wir, als dieser Freund ihm die Teilhaberschaft anbot. Das hat mich viel Geld gekostet, aber was tut man nicht alles, damit ein Kind seinen Platz im Leben findet?«
Er legte eine Pause ein und sah so aus, als erwartete er den einen oder anderen Seufzer der Ergriffenheit. Da die Staatsanwältin drauf und dran war, seine Erwartung zu erfüllen, warf Erik schnell ein: »Ich gehe davon aus, dass der Freund weniger an der Mitarbeit als vielmehr an dem Geld interessiert war, das Ihr Sohn in die Firma einbrachte?«
»Und an den Verbindungen, die er durch mich bekam«, setzte Severin Dogas mit einem traurigen Lächeln hinzu.
»Was dann passierte, wissen wir.« Erik sah Dogas so lange eindringlich an, bis er wissen musste, dass ein altgedienter Kriminalhauptkommissar sich kein X für ein U vormachen ließ. »Ihr Sohn und sein Kompagnon betrogen eine Reihe Prominenter um sehr viel Geld. In den Zeitungen war sogar von mehreren Millionen die Rede.«
»Übertreibungen«, behauptete Severin Dogas. »In der Presse wird ja immer alles aufgebauscht.«
Erik hörte darüber hinweg. Ihm lag daran, die Befragung so lange wie möglich allein durchzuführen. Wer konnte schon sagen, wann Frau Dr. Speck sich von ihrer Betroffenheit erholt haben und sich einmischen würde?
»Irgendwann jedenfalls wurde es Ihrem Sohn und seinem Freund zu heiß. Die beiden zogen es vor, alles stehen und liegen zu lassen und zu flüchten.«
Severin Dogas senkte den Blick und nickte. »Unterwegs bekamen die beiden Streit. Manuel nahm seinen Koffer und stieg aus. Er wollte mit dem Zug weiterfahren.«
»Sein Glück«, meldete sich Sören zu Wort. »Das hat ihm das Leben gerettet.«
Nun mischte sich auch die Staatsanwältin ein. »Dann hörte er von dem Unglück im Montblanc-Tunnel und rechnete sich aus, dass er so aus seinem alten Leben verschwinden könnte, nicht wahr?«
Erik nickte. »Niemand würde nach ihm suchen, von der Fahndungsliste der Polizei wurde er natürlich gestrichen. Keine Verhaftung, keine Strafe, keine Wiedergutmachung! Er ging nach New York und
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