Geteilter Tod - Norman, H: Geteilter Tod - Caged
gern zu Hause anrufen und mich überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«
»Du möchtest an deinem Geburtstag mit unserem Sohn sprechen?«, hauchte Sam liebevoll gegen ihre linke Brust. »Kommt mir absolut vernünftig vor.«
»Das dürfte aber teuer werden.«
»Zum Teufel mit teuer«, erwiderte Sam.
Nachdem Grace sämtliche Geschenke und Grußkarten geöffnet hatte, die Sam an Bord geschmuggelt hatte, erledigten sie das Telefonat. Es gelang David, beide davon zu überzeugen, dass es Joshua großartig ginge und dass er sie überhaupt nicht vermisse. Danach war ihr Sohn an den Apparat gekommen und hatte ein paar Sekunden glücklich geplappert. Anschließend hatte Sam Martinez angerufen, der inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen und wieder zu Hause war. Er hörte sich erschöpft, aber wesentlich kräftiger an. Jessica war bei ihm und umsorgte ihn, wie Martinez behauptete. Sam beschloss, ihm zu glauben, zumindest für den Moment.
In ihrer Welt schien alles in Ordnung zu sein.
»Das sind Worte, für die es sich fast lohnt, mit einem Tagebuch anzufangen«, sagte Grace zu Sam, als sie nach dem Mittagessen über das Deck spazierten. Sie waren im Andromeda Café gewesen, hatten an einem der großen Fenster gesessen und üppig gegessen, sodass sie sich jetzt vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten.
»Du magst doch keine Tagebücher«, meinte Sam.
»Stimmt«, sagte Grace. »Mir ist nur danach, das alles für immer festzuhalten. Aber ich nehme an, dass es hier drin aufbewahrt werden sollte.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Damit wir es herausholen und uns anschauen können, wenn wir alt und senil sind.«
»Du wirst niemals senil sein«, sagte Sam.
»Es würde mir nicht allzu viel ausmachen«, erwiderte Grace, »solange du und ich zusammen senil werden.«
»Weißt du was?«, sagte Sam leise, während sie Händchen haltend weitergingen. »Ich wusste bisher gar nicht, dass Schiffe mich geil machen.«
»Dich auch?«, erwiderte sie. »Wer hätte das gedacht?«
Sie machten auf dem Absatz kehrt und gingen zurück in ihre Kabine.
93
In dieser Nacht änderte sich alles.
Um genau dreiundzwanzig Uhr fünf.
Da war ihr Seelenfrieden mit einem Schlag dahin.
Weil es ihr letzter Abend war, war kurzfristig Disziplin in ihr Leben zurückgekehrt. Abgesehen von den Dingen, die sie für ihre letzte Übernachtung brauchten, hatten sie alles packen und das Gepäck vor Mitternacht fertig haben müssen, damit es abgeholt werden konnte. Wie die meisten anderen Passagiere hatten auch Sam und Grace dies bereits vor dem Abendessen erledigt, damit sie sich am letzten Abend an Bord nicht mehr damit befassen mussten.
Das Gefühl, keine Pflichten zu haben, schien jeder an Bord nach Herzenslust auszukosten. Das hatten sie gesehen, als sie im bis zum letzten Platz gefüllten Stardust Grill Hochrippenbraten und Hummer gegessen hatten, und das sahen sie auch jetzt noch, als sie an einem Ecktisch in der Aurora Bar saßen und sich einen Cognac gönnten. Einige Passagiere liefen in extravaganter Kleidung umher; offenbar gab jemand auf dem Schiff eine Privatparty.
Sam hatte Grace gerade erklärt, er müsse auf Diät gehen, wenn sie wieder zu Hause waren, als sein Blick plötzlich auf eine Gestalt fiel, die sechs, sieben Meter von ihnen entfernt stand, am anderen Ende der Bar.
Es war ein Mann, ganz in Silber gehüllt, vom Scheitel bis zur Sohle.
Ein Gespenst aus der Vergangenheit.
»Du lieber Gott ...« Sam spürte, wie ihm das Entsetzen mit eisigen Klauen über den Rücken kroch. »Cooper.«
Jerome Cooper, Grace' Stiefbruder, alias Cal der Hasser. Mehrfacher Mörder und der Mann, der vor weniger als einem Jahr beinahe ihre Familie zerstört hätte.
Sam hatte Cooper nie so angezogen gesehen, ganz in Silber glänzend. Dafür hatte Mildred ihn mehr als einmal so gesehen und für dieses Privileg fast mit dem Leben bezahlt.
Grace drehte sich auf ihrem Stuhl, riss die Augen auf und entdeckte Cooper nun auch.
»Das kann er nicht sein«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein, Sam ...«
Denn Jerome Cooper war tot.
Zumindest wurde dies gemutmaßt, denn man hatte seine Leiche nie aus dem Ozean geborgen.
Der silberne Mann bewegte sich, hatte die Aurora Bar bereits verlassen und ging in Richtung Schiffsmitte.
»Tut mir leid.« Sam sprang auf. »Ich muss das genau wissen.«
Er war weg, bevor Grace ein weiteres Wort sagen konnte.
Auf einmal erfasste sie schreckliche Furcht. Sie stand ebenfalls auf und folgte Sam. Weit vor sich
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