Geteilter Tod - Norman, H: Geteilter Tod - Caged
erwähnt, ob sie ...« Sie sprach nicht weiter.
»Sie sind nicht sexuell missbraucht worden«, sagte Sam. »Schau mich an, Grace.«
Sie sah ihm in die Augen.
»Ich glaube nicht, dass irgendetwas von dem hier mit Sex zu tun hat«, sagte er.
Mit einer anderen Form von Befriedigung, dachte er, beschloss aber, es für sich zu behalten.
»Also geht es um Macht«, sagte Grace und schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Ich glaube, dass ich mich dagegen leichter zur Wehr setzen kann.«
»Wir können uns voll dagegen zur Wehr setzen«, erklärte Sam.
102
Am Dienstagmorgen um acht Uhr fünfzehn traf Mildred vor dem Haus auf der Insel ein.
Der blaue Toyota und Samuels Wagen waren beide draußen geparkt, was in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich war, dachte Mildred, da Samuel im Allgemeinen viel früher zur Arbeit fuhr, und wenn er zu Hause war, parkte er seinen Wagen in der Garage.
Doch wie es sich angehört hatte, hatten sie gestern ja wohl ziemlich was mitgemacht. Was ihr persönlich auch zu schaffen gemacht und ihr viel von ihrer inneren Ruhe geraubt hatte.
Hören zu müssen, dass er noch am Leben war.
Der eine, der ihr um Haaresbreite das Leben genommen, Joshua entführt und mindestens drei Menschen ermordet hatte.
Mildred erwog, den Klingelknopf zu betätigen, beschloss dann aber, ihren Schlüssel zu benutzen, denn vielleicht war es spät bei ihnen geworden - wie bei ihr selbst -, und vielleicht schliefen sie ja aus.
Kaum dass sie im Haus war, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte.
Joshua weinte, und Woody bellte irgendwo im Haus, obwohl er ihr eigentlich im Korridor um die Beine hätte herumspringen müssen. Abgesehen davon war es still. Auf eine verkehrte Weise still, dachte Mildred. »Grace?«, rief sie. Keine Antwort. »Samuel?« Nichts.
Hier war etwas faul. Joshuas Weinen kam von oben.
Leise, aber schnellen Schrittes lief Mildred die Treppe hinauf. Das Herz pochte ihr unangenehm in der Brust, ihre Handflächen waren klebrig, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie musste jetzt erst einmal zu dem kleinen Jungen.
Er war allein in seinem Kinderzimmer, stand in seinem Bettchen, hielt sich an den Seitenverstrebungen fest und weinte herzzerreißend. Seine hübschen dunklen Augen ertranken in Tränen.
»Mein süßer Liebling«, sagte Mildred, hob ihn aus dem Bett und schloss ihn in die Arme.
Er war ganz heiß und zitterte, seine Windel war durchnässt, und sein jammerndes Klagen verwandelte sich in lautes Kreischen bei dem Versuch, ihr gegenüber zum Ausdruck zu bringen, wie groß seine Furcht gewesen war, die das Alleinsein in ihm ausgelöst hatte. Mildred drückte ihn an sich und tat, was sie konnte, um ihn zu trösten.
»Ich bin ja da, ich bin ja da«, sagte sie leise und summte ihm ins Ohr. »Du bist ja jetzt bei mir.«
Sie machte sich auf alles gefasst.
Ging ins nächste Zimmer und klopfte an die Tür, darauf vorbereitet, den kleinen Jungen sofort umzudrehen, falls etwas Schreckliches in dem Zimmer war.
Zögernd öffnete sie die Tür.
Und atmete auf. Er gab nichts Schreckliches zu sehen, sah man davon ab, dass im Bett der Beckets niemand geschlafen hatte.
»Ich bin ja da, ich bin ja da«, sagte Mildred noch einmal tröstend zu Joshua.
Sie lief rasch durch die anderen Zimmer des kleinen Hauses, inspizierte das Bad und das Schlafzimmer, das Cathy gehört hatte, ging dann wieder nach unten und trat nach draußen auf die Terrasse. Dann schaute sie im Arbeitszimmer nach, der »Höhle«, in der makellos sauberen Küche und auf der Veranda.
Woody war in Grace' Büro; man hatte ihn dort eingesperrt. Das Tier war völlig durcheinander. Es hatte den Teppich vollgepinkelt, und sein Bellen klang schrill und seltsam, als versuche er, Mildred irgendetwas mitzuteilen.
»Oje«, sagte Mildred.
Und lief zum Telefon, um Alarm zu schlagen.
103
Sam hatte die Puzzleteile zusammengefügt, größtenteils im Kopf, nicht so sehr, um Grace zu verschonen, wohl aber, um Dooley und Simone - für den Fall, dass sie lauschten - vorzuenthalten, was er dachte.
»Ich versuche, ein paar Dinge herauszufinden, Gracie«, hatte Sam vor einer Weile gesagt, »aber ich werde es nicht laut aussprechen.«
»Das macht mir nichts«, hatte sie geantwortet, denn sie verstand.
Sam griff an die Fessel, die um seinen Knöchel lag, und versuchte noch einmal, sich eine Möglichkeit einfallen zu lassen, wie er das Ding loswerden konnte. Er begriff, dass die Sache hoffnungslos war, zerrte kräftig an
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