Getrieben: Thriller (German Edition)
rötlichen Hügel seines Heimatlandes schweifen. »In Amerika gibt es nur ein Ziel, das in Frage kommt.«
47.
Die Fahrt nach Kabul dauerte zwölf Stunden und führte über unzumutbare Straßen. Die Nacht verbrachte Haq in einem sicheren Haus. Früh am Morgen stand er auf, sprach seine Gebete und machte sich dann für die Reise fertig. In einer Akte, die für ihn bereitgelegt worden war, befanden sich alle erforderlichen Dokumente: Karten mit dem Zielobjekt, Fahrpläne, Zeitabläufe und Reisedokumente, darunter ein britischer Pass mit einem Foto, das vor zehn Jahren aufgenommen worden war und ihn als jungen Mann zeigte.
Im Innenhof wusch er sich und seine Brandwunden behutsam mit einem Schwamm. Als er damit fertig war, weichte er seine langen Fingernägel in einer Schüssel mit warmem Wasser ein. Jeder Nagel stand für eine Lektion, die er im Laufe seines Lebens gelernt hatte, deshalb nahm er sich viel Zeit, sie voller Andacht zu kürzen.
Der erste Nagel symbolisierte die Hilflosigkeit, die er beim Tod seines dreijährigen, jüngeren Bruders empfunden hatte, der an einer unbekannten Krankheit gestorben war. Der zweite Nagel stand für die Tragödie, denn seine Mutter war nur ein Jahr später bei der Geburt des Sohnes gestorben, der den Platz von seinem toten Bruder einnehmen sollte.
Der dritte stand für die Ohnmacht, denn bei der Geburt starb nicht nur die Mutter, sondern auch der neugeborene Bruder.
Der vierte Nagel symbolisierte die Ehrhaftigkeit seiner älteren Schwester, die als unberührte Frau von den russischen Invasoren vergewaltigt worden war und sich danach im Fluss ertränkt hatte, weil sie als beschmutzte und unwürdige Frau ihrem Clan keine Schande bereiten wollte.
Der fünfte Nagel stand für die Anmut seiner Frau, die ihm sechs Kinder geboren hatte.
Der sechste Nagel für die Weisheit seines Vaters, der ihn gelehrt hatte, ein gefürchteter Anführer zu werden.
Der siebte Nagel symbolisierte die Demut des Propheten. Friede sei mit ihm.
Der achte war für die Selbstachtung, die ihn der ehrwürdige Haq-Clan, der den Invasoren nun schon seit tausend Jahren Widerstand leistete, gelehrt hatte.
Der neunte Nagel stand für die Hoffnung, die sein einziger, noch kleiner Sohn in ihm weckte, den er von ganzem Herzen liebte. In seinen täglichen Gebeten flehte Haq zu Allah, dass sein Sohn und dessen Nachkommen den Kampf des Clans noch mindestens tausend Jahre fortsetzen würden.
Den letzten Nagel schnitt er nicht ab, denn dieser symbolisierte den Mut, und wahren Mut unter Beweis zu stellen war eine Lektion, die ihm noch bevorstand.
Als er mit den Nägeln fertig war, setzte er sich auf einen Stuhl, damit ein junges Mädchen ihm die Haare schnitt.
»Kurz«, wies er sie an. »Aber lass noch genug Haare zum Kämmen übrig.«
Mit flinken Fingern machte sich das Mädchen an die Arbeit. Nach fünfzehn Minuten hatte sie ihr Werk beendet.
Um Bart und Schnauzer kümmerte sich Haq selbst. Weil er noch nie zuvor mit Kamm und Rasierer gearbeitet hatte, brauchte er dafür deutlich länger. Zurück in seinem Zimmer zog er die Sachen an, die dort für ihn bereitlagen: einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und einer Krawatte. In den Lederschuhen fühlten sich seine Füße schmerzhaft eingeengt an.
Zum Schluss betrachtete Haq sein Werk in einem großen Spiegel. Ihm fiel auf, dass er noch etwas vergessen hatte. Mit einem feuchten Tuch wischte er sich den Kajal von den Augenlidern. Als er erneut in den Spiegel blickte, starrte ihm ein Mann aus dem Westen entgegen.
Nein, schlimmer, ein Amerikaner.
Haq hätte sich am liebsten übergeben.
Stattdessen wählte er die Nummer von Ariana Afghan Airlines. »Ich möchte bei Ihnen einen Flug für heute Vormittag reservieren«, sagte er.
»Und wohin möchten Sie fliegen?«
»Nach Islamabad.«
»Hin- und Rückflug?«
»Nein«, antwortete Sultan Haq. »Nur Hinflug.«
48.
In zwei Tagen würde er zu existieren aufhören.
Energisch trat Lord Balfour durch die Küchentür nach draußen und überquerte den gepflasterten Parkplatz. In der einen Hand hielt er einen Becher Chai und in der anderen eine schwarze Ledergerte. Er trug Freizeitkleidung: eine Leinenhose mit seinem erklärten Lieblingshemd, dem Poloshirt des Highgrove-Teams (zu dem auch William, Harry und Prinz Charles gehörten). Seine Stimmung war so übermütig, dass er seinem Friseur gestattet hatte, ihm das widerspenstige Haar zu glätten und zu scheiteln und anschließend den Schnurrbart zu trimmen. An diesem
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