Getrieben: Thriller (German Edition)
sah, dass zwei Stühle frei blieben: einer am Ende des Tischs und der andere direkt ihm gegenüber.
»Ah, da sind Sie ja«, rief Balfour plötzlich aus und eilte dem soeben erschienenen Gast sofort entgegen. »Ich habe mich schon gewundert, wo Sie bleiben.«
Sie ist hier, dachte Jonathan und fragte sich in einem Anflug von Panik, wie er sich verhalten solle. Doch als er sich nach dem verspäteten Gast umwandte, stellte er fest, dass es nicht Emma war. Bei Balfour stand ein großer Ausländer in einem grauen Anzug, der vermutlich Balfours Klient war. Der Mann nahm auf dem Stuhl links von Balfour Platz. »Michel, darf ich Ihnen meinen Freund Shah vorstellen? Shah, das ist Michel. Michel kommt aus der Schweiz.«
Jonathan begrüßte den Mann, der ihm kurz zunickte. Seinem Äußeren nach zu urteilen, konnte er kein Pakistani oder Inder sein, dafür waren seine Haut zu blass und seine Wangenknochen zu ausgeprägt. Der Mann starrte Jonathan an, und dieser erwiderte den Blick, doch nur für einen kurzen Augenblick. Irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt vor und sorgte für ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend.
Balfour sprach mit seinem Gast in Dari, während die schöne Yulia die Hand auf Jonathans Arm legte und ihn fragte, ob er schon einmal in der Ukraine gewesen sei. Jonathan verneinte die Frage und gab sich alle Mühe, angeregt mit Yulia zu plaudern und dabei gleichzeitig ein paar Gesprächsfetzen von Balfour und seinem Klienten aufzuschnappen, die sich inzwischen sehr eindringlich und leise unterhielten.
Die Kellner servierten den ersten Gang, eine Kartoffel-Lauch-Suppe. Ein Sommelier mit einem Probierbecher um den Hals brachte den Wein. Balfour nahm einen Schluck und befand ihn für gut. Sofort machte sich der Weinkellner daran, Balfours Gästen einzuschenken. Der Mann namens Shah hielt eine Hand über sein Glas. Jonathans Blick fiel auf den langen Fingernagel am kleinen Finger des Mannes, und er musste sich zusammenreißen, damit der andere ihm das Entsetzen nicht ansah. Jonathan hatte von Anfang an gewusst, dass er den Mann kannte.
Mr. Shah war niemand anderes als Sultan Haq.
»Michel, haben Sie schon den Wein probiert?«, fragte Balfour. »Ich habe Ihnen zu Ehren einen Schweizer Dézaley ausgewählt.«
»Wie bitte?« Jonathan riss seinen Blick von dem gekrümmten, gelblichen Nagel seines Gegenübers los.
»Der Wein … Ein Dézaley. Sie werden ihn bestimmt mögen.«
»Merveilleux«, rief Jonathan aus, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Sein Akzent klang übertrieben, und seine Begeisterung wirkte aufgesetzt. In wenigen Sekunden würde Haq erkennen, wer er wirklich war. Dann würde er von seinem Stuhl aufspringen, Jonathan als Spion der Amerikaner enttarnen und ihn auf der Stelle töten.
Nachdem er das Glas zurück auf den Tisch gestellt hatte, bemühte sich Jonathan krampfhaft, die Unterhaltung mit der bildschönen Ukrainerin fortzusetzen. Über was sie im Einzelnen sprachen, bekam er jedoch kaum mit, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, Haq beunruhigt aus dem Augenwinkel heraus zu beobachten. Ohne seinen Turban, den Bart und den dicken Kajalstrich auf den Unterlidern war Haq kaum wiederzuerkennen. Die Zeit schlich dahin. Haq blieb ruhig, doch Jonathans Beunruhigung legte sich deshalb keineswegs. Er war sich sicher, dass auch sein Gesicht Haq irgendwie bekannt vorkam und dieser sich im Stillen den Kopf zerbrach, wo er Jonathan schon einmal begegnet war.
»Michel, Shah hat vor Kurzem seinen Vater verloren«, wandte sich Balfour wieder an ihn. »Ich habe ihm erzählt, dass Sie Arzt sind und dass es für sein Land nur von Vorteil wäre, wenn es dort mehr ausgebildete Ärzte gäbe.«
Jonathan blieb nichts anderes übrig, als Shah direkt ins Gesicht zu blicken. »Tut mir leid, das zu hören«, sagte er und versuchte, sich so gut es ging hinter seinem Schweizer Akzent zu verstecken. »Aus welchem Land kommen Sie?«
»Afghanistan«, erwiderte Haq in seinem akzentfreien Englisch, mit dem er Jonathan schon vor zwei Wochen zutiefst beeindruckt hatte. »Von der anderen Seite der Berge, um genau zu sein. Ehrlich gesagt teile ich das Vertrauen, das Mr. Armitraj Ärzten wie Ihnen entgegenbringt, ganz und gar nicht.«
»Ach ja?«, fragte Jonathan und sah scheinbar überrascht Haq in die dunklen Augen. »Und weshalb nicht?«
»Es war ein Arzt, der meinen Vater getötet hat.«
»Aber das war doch sicher keine Absicht.«
»Wie würden Sie es denn nennen, wenn man Ihnen ein Messer an die Kehle
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