Getrieben: Thriller (German Edition)
seines Vaters in Tora Bora war eine Woche ins Land gezogen. Sieben qualvolle Tage, in denen er wegen der schweren Verbrennungen furchtbare Schmerzen erduldet hatte. In dieser Zeit hatte er auch um seinen Vater getrauert, der obendrein sein engster Freund und Vertrauter gewesen war, und unentwegt an Ransom, den amerikanischen Arzt, und dessen Verrat gedacht. Tag für Tag hatte er sich gefragt, wie er es anstellen sollte, Ransom aufzuspüren und zu töten. Er wusste, dass ihm wohl kaum vergönnt sein würde, Rache an Ransom zu üben. Aber das spielte keine Rolle. Er würde sich an all denen rächen, die Ransom zu ihm geschickt hatten. Amerika würde teuer dafür bezahlen.
Haq erklomm die drei Stufen bis zur Eingangstür und betrat die Raffinerie. Im ersten Raum wurde die angelieferte Ware gelagert. Das in durchsichtige Plastiksäcke verpackte Rohopium stapelte sich an den Wänden fast bis an die Decke.
Im nächsten Raum wurde aus dem Rohopium Morphin extrahiert. Haq sah zu, wie die Männer die Plastiksäcke mit der zähen, teerartigen Opiummasse in rostige Ölfässer entleerten. In den Fässern brodelte kochendes Wasser, das in jedem Arbeitsschritt mit anderen Chemikalien versetzt wurde. Dazwischen wurde die Brühe immer wieder gefiltert.
Das Ergebnis war die sogenannte Morphinbase. Aus zehn Kilo Rohopium wurde auf diese Weise etwa ein Kilo Morphinbase gewonnen.
Im dritten Raum wurde die Morphinbase in ziegelsteingroße Blöcke gepresst und verpackt. In dieser Form wurde sie verkauft und an Heroin-Küchen auf der ganzen Welt geliefert.
Die Gewinne aus dem Opiumanbau waren ein Argument, dem man schlicht und einfach nichts entgegensetzen konnte, dachte Haq, als er die dunklen, feuchten und übelriechenden Räume durchquerte. Aus einer ein Hektar großen Mohnplantage ließen sich zwanzig Kilo Rohopium gewinnen. Der Marktpreis für ein Kilo belief sich auf zweihundertfünfzig bis dreihundert US-Dollar. Mit der Ernte eines Mohnfelds von gerade mal einem Hektar konnte ein Bauer bis zu sechstausend Dollar verdienen, eine stolze Summe für ein Land, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen gerade mal bei achthundert Dollar lag. Haq und sein Clan kontrollierten über zweitausend Hektar Land, auf dem Mohnpflanzen angebaut werden konnten. In diesem Jahr hatte die Ernte vierzigtausend Kilo Rohopium erbracht, also umgerechnet knapp viertausend Kilo Morphinbase.
Mit seinem langen gekrümmten Fingernagel schlitzte Haq einen der in Plastikfolie verpackten Morphinblöcke auf und entnahm daraus eine Prise der braunen Morphinbase. Er schnupfte sie und stellte befriedigt fest, dass die Qualität hervorragend war. Seine Schmerzen ließen fast augenblicklich nach, und ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Einen Augenblick lang kämpfte er gegen die Versuchung an, gleich noch eine Prise zu schnupfen, doch er riss sich zusammen. Eine Droge wie diese durfte er nur sehr sparsam nehmen, wenn er nicht wie der Produktionsleiter von ihr abhängig werden und seinem Vater Schande bereiten wollte.
Haq zerteilte den Block in vier etwa gleich große Stücke und ließ eines davon in seiner Jackentasche verschwinden. In den kommenden Tagen würde ihm das Morphin gute Dienste leisten und seine Schmerzen lindern, damit er sich auf wichtigere Dinge konzentrieren konnte.
In einer Ecke des Raums lief ein Fernseher auf voller Lautstärke. Drei Süchtige hockten auf dem Boden davor und starrten wie gebannt auf den Bildschirm. Haq ging zu ihnen hinüber. »Was schaut ihr da?«
»Gangster in Amerika«, erwiderte einer der Männer.
Auf dem Boden lag eine leere DVD-Hülle. Haq hob sie auf. »Scarface« , las er laut. »Guter Film?«
»Sehr gut. Die Amerikaner lieben Drogen.«
Haq starrte auf den Bildschirm, auf dem gerade ein Mann gezeigt wurde, der mit einer Kette an eine Duschvorhangstange gefesselt war. Ein zweiter Mann hantierte mit einer Kettensäge. Die Gewaltszenen und Schreie und das Morphin in seinem Blut weckten in Haq Erinnerungen an eine lange zurückliegende Zeit und einen Ort weit weg von seiner Heimat. Mit einem Mal war er wieder in Gitmo. Das heiße, stickige Zimmer in Camp X-Ray stank nach Schweiß und Erbrochenem. Wissbegierige, wohlgenährte Gesichter umringten ihn. Aus einem Fernseher in der Ecke plärrten ununterbrochen die Stimmen und die Musik des immer gleichen Films. Drei unbeschwerte Marinesoldaten in schneeweißen Uniformen sangen aus vollem Hals und tanzten dabei quer durch Manhattan. Die Lautstärke war bis
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