Gewäsch und Gewimmel - Roman
Privatleben und auch vielleicht dem Beruflichen zur Ruhe zu kommen, antwortete Katja, man müsse sich das Leben und das jeweils zugeteilte Schicksal vorstellen als einen im Bogen geworfenen Ball. Der eine habe eine hohe, kraftvolle Schwungbahn, der andere eine matte. Für sie gelte: Entweder sie würde der vom starken Druck der Wurfhand vorgeschriebenen Linie folgen bis zum Ziel oder mittendrin abstürzen. Sie habe keine Wahl.
Bei ihrem letzten Besuch hat sie plötzlich die Mutter angefahren: »Nun kuck nicht so vergrämt aus der Wäsche!« »Ich kann doch nicht immer grinsen«, antwortete die Mutter schuldbewußtwegen der Glätte des herzlosen Gesichts vor ihr und fragte sich heimlich: Was soll man machen, wenn die Falten von allein in die traurige Richtung fallen? Wie gut Katja sehen, hören, riechen kann! Wie man sie liebt und fürchtet, die erbarmungslose Empfindlichkeit der Jugend!
Was sie nicht wußte: Damals, als der Vater von Eva Wilkens seiner Tochter vor deren Amerikareise bei einem Kaffee gegenübergesessen und er schon lange nicht mehr ein junges Gesicht so aus der Nähe betrachtete hatte, sah er am Abend seine eigene Frau dermaßen seltsam an, daß sie danach, vor dem Spiegel, in ahnungsvoller Bangigkeit um ein Haar in Tränen ausgebrochen wäre.
Das Unverbrüchliche
Frau Sykowa sieht das Gesicht ihres Mannes an. Plötzlich überfällt sie die Traurigkeit. Sie kann in der Gegenwart ja nur seine Züge erforschen und prallt jedes Mal davon ab. Anderes ist nicht möglich. Eigentlich ist es leichter, ihm nahe zu sein, wenn sie sich abwendet. Dann wird sie eingelassen in seinen großen Kopf.
Auch haben sie beide etwas Unverbrüchliches: Sie kennen sich seit der Kindheit. Deshalb können sie einmünden in die Flure, wo die sonst entschwebenden Ereignisse zu Erinnerungen zusammenlaufen. Frau Sykowa sagt es sich aus dem Zwielicht ihres augenblicklichen Gefühls heraus, denn eben hat sie eine kleine Witwe getroffen, schwarz und krumm, über sechzig Jahre mit ihrem Mann verheiratet, bis ihn der Tod ihr vor einem Jahr raubte. Das Gesicht der Frau redete von keiner Tröstung, erst recht nicht von der, die als Gabe und Gnade der nachfolgenden Zeit versprochen wird.
Einmal fragte Frau Sykowa Jan beiläufig in die Luft hinein: »Glaubst du an Gott?«
»Ich versuche es«, sagte Jan, »aus Kindlichkeit und aus Not.«
Frau Sykowa hat die Antwort für immer und ewig, vor allem für später, in ihrem Herzen aufbewahrt.
Was Ruth zu sagen hat
Herta ist überrascht, daß Ruth sie anruft. Sie ist es vor allem über deren sternlose Stimme. Sternlos? Ja, so empfindet es Herta, eine Stimme, die durch ein leeres Universum irrt. Ruth sagt: »Was du über die Affen geschrieben hast, tut mir sehr leid. Das wollte ich dir doch noch sagen. Aber bedenke auch, daß mein Vater damals, er war ja Bergmann im Ruhrgebiet auf der Zeche Konstantin, elendig an Steinstaublunge zugrundegegangen ist. Und mein Onkel, der beim Bochumer Verein gearbeitet hat, in der Halle, wo sie jetzt die Jahrhunderthalle haben, der ist an der glühenden Stahlschlange verunglückt.«
»Ruth? Ruth?«
Was will die bloß, fragt sich Herta, soll ich das jetzt den Orang-Utans erzählen? In ihrem Kopf flüstert und brüllt es: Du Wichtigtuerin! Du Blatt im Wind!
Sie sagt aber: »Ach komm, Ruth, man stirbt so schnell. Laß uns vorher wieder Vernunft annehmen.«
Erwins Quiz, Elsas Tops
»Wissen Sie«, fragt Erwin, während Elsa seine Gliedmaßen traktiert. »Wissen Sie, wie viele provisorisch versiegelte Bohrlöcher die großen Ölfirmen auf dem Meeresgrund im Golf von Mexiko hinterlassen haben, unüberprüft und ohne Gewissensbisse? Wissen Sie, zweitens, wieviel eine menschliche Standardträne wiegt? Wissen Sie, drittens, wieviel Bestechungsgeld es kostete, wenn man einen KZ-Häftling von Auschwitz nach Theresienstadt, wo die Überlebenschancen etwas größer waren, verlegen lassen wollte?«
Die kluge Elsa spürt, daß Erwin sich mit seinen Fragen für die kleinen Schmerzen, die sie ihm zufügen muß, rächen will. »Belehren Sie mich!« sagt sie und verstärkt ihre Arbeit an Erwins Muskeln. »Ich verrate Ihnen dafür meine drei Tops: Erstens, morgens die Dax-Kurse in der Zeitung lesen, zweitens, von Auslandsmissionzu Auslandsmission die Veränderungen im Gesicht von Hillary Clinton verfolgen, drittens, die Patienten quälen wegen der Jammermelodie, die aus ihnen rauskommt.«
Und tatsächlich, Erwin entfährt gerade in diesem Moment ein echter, vollständig
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