Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
Vom Netzwerk:
Iran Deutsch beigebracht, als er in meinem Haus bei Ali im dritten Stock gewohnt hat.
Brelle
. Nein: Brille.
Brelle!
Aber seine Frau durfte mir nicht die Hand geben, was verdammt nochmal interessiert es Gott, wenn der überhaupt an irgendetwas interessiert ist, ob ich der Alten die Hand gebe! Wir leben in Zeiten von Aids und Schweinegrippe. In Berlin baden Mohameds Frauen jetzt schon in Ganzkörperbadeanzügen,
Burkinis
nennen die das, aber Allah kann doch sowieso in die Umkleidekabinen reingucken ... aber darum geht’s wohl nicht. Und noch ein Bier, und die leere Flasche klirrt in den Raum. Das Dröhnen der startenden und landenden Flugzeuge. Der Laptop leuchtet auf dem Tisch.
Wenn eintrifft das Eintreffende. Dessen Eintreffen nicht lügnerisch ist. Erniedernd und Erhöhend. Wenn erschüttert wird die Erde in Schütterung. Und zertrümmert werden die Berge in Trümmerung. Dass sie eine Staubwolke werden, sich ausbreitend.
    Habe ich das Licht nicht eben ausgemacht? Da leuchtet
es mir ins Gesicht. KÜNSTLICHES LICHT WAR 24 STUNDEN AM TAG EINGESCHALTET , ABER ICH SAH NIE SONNENLICHT . Ich taste nach dem Lichtschalter an der Wand, brauche eine Weile, bis ich meine Hände unter der Decke hervorgezogen habe. Pfui, nimm deine Hände weg von meinen Weichteilen! Und da taste ich an der Wand, ist das Glasfasertapete? So etwas gibt es ja gar nicht mehr, Glasfasern in der Wand, wie in unserer Schule, als wir Kinder waren, wenn wir mit den Händen über die Wände strichen, schoben sich diese feinen Fasern zwischen die Hautschichten, man juckte und kratzte, und wer weiß, wie viel wir von diesem asbestähnlichen Zeug einatmeten ... Und jetzt juckt es wieder unter der Haut, während ich nach dem Lichtschalter taste, das Zimmer in Festbeleuchtung,
Die Sura von der Sonne,
bin aber zu träge, mich aufzurichten, und da habe ich den Schalter, an aus, an an, aus, warum kann ich denn meine Hand nicht stillhalten, das summt und brizzelt, wenn der Schalter auf dem Grat zwischen An und Aus verharrt, die Lampe an der Decke blinkt und flackert, Stromstöße fahren durch K.s Körper, Zähneknirschen, Schüttelfrost, Elektroden an den Hoden, wie hältst du das bloß aus? Die Gewalt nackt oder im Pyjama?, aber wie ich mir die Decke über den Kopf ziehe, wieder das Grinsen von allen Seiten. Das darf nicht sein, eben habe ich doch fast geschlafen. Oder träume ich noch? Jetzt ist das wieder in meinem Kopf, zwischen den flackernden Lichtern, einmal habe ich von meiner Großmutter geträumt. Die hat fest an Allah geglaubt, also in Luthers Sinne. Hat meinem Großvater versprochen, dass sie sich aus dem Jenseits meldet, und er wartet seitdem. Aber bei mir ist sie schon gewesen, und ist auch jetzt wieder in meinem Kopf, nicht im Kopf, sie war in dem
Dazwischen
. Ein
Menschenstrom, nicht endend. Ich stand und stehe an der Seite
, Picknick am Wegesrand,
und der Menschenstrom zieht an mir vorbei. Und da tritt sie hervor aus diesem Gewimmel, stellt sich an meine Seite. Und wir reden, und ich sage: »Großmutter, hör auf, ich bin doch nur ein kleines Licht.«
    »Aber du wirst groß herauskommen«, sagt sie.
    »Aber ich meinte das doch metaphysisch«, sage ich, aber sie wiederholt es, »du wirst groß herauskommen!« Und ein anderer Mensch tritt aus dem Strom, und meine Großmutter sagt: »Da will dir jemand guten Tag sagen.« Und da kommt dieser Typ, um den ich mich als Kind, zehn, elf, zwölf war ich damals, immer gekümmert habe. Der war geistig etwas langsam. André hieß der. Und seitdem versuche ich rauszukriegen, ob er tot ist, wundern würde mich das nicht, suche im Internet, frage Freunde, aber er ist verschwunden. Wenn er tot ist, und das wäre gut, wäre mein Glaube an Allah, an Gott, an Mohamed und Jesus gefestigt. Aber so ist es nur ein Traum. Ich schrecke hoch, stehe im Bett. Ich liege auf einer leeren Bierflasche, kein Wunder, dass ich schlecht schlafe. Ich weiß erst nicht, wo ich bin. Das geht mir oft so, wenn der Schlaf alles verdunkelt in mir. Durch den Türspalt sehe ich das Licht aus dem Bad. Ich taste nach dem Schalter an der Wand, die Birne muss durchgebrannt sein. Ist es Nacht, oder ist es Tag? Das Fenster ist zugehängt. Meine Lippen sind verkrustet, mein Mund ausgetrocknet. Ich schleudere die Decke weg, ich bin vollkommen nackt. Ich habe einen Ständer, ein Burkini wäre jetzt nicht schlecht, denn ich habe das Gefühl, jemand beobachtet mich von oben, als wäre ich in einem Bernstein, aber die Zimmerdecke hängt dunkel und schwer

Weitere Kostenlose Bücher