Gewitter über Pluto: Roman
sich die Hand und gingen auseinander. Also, der
Makler ging, während Lorenz bloà ein paar Schritte machte, stehenblieb, kurz
überlegte und in der Folge durch das offene Tor des rosafarbenen Hauses
eintrat.
Er war überrascht. Das Innere des Gebäudes wirkte sehr viel älter
als seine Fassade, welche Lorenz den neunzehnhundertfünfziger Jahren zugeordnet
hatte, während der schmale, steinerne, mit einem Wasserbecken und leichten
Wandvertiefungen ausgestattete Flur einen Blick ins späte neunzehnte
Jahrhundert gewährte. Die Treppe besaà ein schmiedeeisernes Geländer mit
mannigfaltiger Verzierung â Ranken, Trauben, Blumen, Tierköpfe. Geradezu prachtvoll,
sehr viel prachtvoller als der Rest des Stiegenhauses. Lorenz tat einige
Schritte die Stufen hoch und betrachtete eingehend die schwarz lackierte
Eisenarbeit. Er erkannte kleine Figuren, die zwischen den Ornamenten kopfüber
hingen. So eine Art Höllensturz, wenn man die tiefergelegenen Formationen als
loderndes Feuer interpretierte. Schon ungewöhnlich für ein Geländer. Auch
entdeckte er gebeugte Gestalten mit Werkzeugen, einen Gekreuzigten, einen Mann
mit Peitsche, Kinder im Kreis, dies alles aber nicht im Stil einer
fortlaufenden und Zusammenhänge herstellenden Geschichte, sondern eingebettet
in das Meer aus sinnlos herumwirbelnden Schmückungen. Als wäre die Geschichte
der Welt bloà das Nebenprodukt einer alles dominierenden, fundamentalen
Dekoration ihrer selbst. Das Ornament somit der Ursprung, der Auslöser, der
eigentliche Zweck.
Die Welt als Geländer. Warum nicht?
Lorenz war mittels seiner Geländerbetrachtung zwei Stockwerke nach
oben geraten. Er vernahm Geräusche und Stimmen. Wahrscheinlich aus einem
Fernsehgerät. Er stieg wieder hinunter ins Parterre, wo ihn ein vom Windzug
getragener Geruch dazu verführte, den Gang weiter nach hinten zu gehen und
durch eine offene Türe in einen Hinterhof zu gelangen. Besser gesagt einen
Hinter dschungel , eine einzige grüne Bedrängnis, einen
zwischen Mauern gesperrten europäischen Miniatururwald. Daher der Geruch,
Blütengeruch, Ziersträuchergeruch, Feuchte-Erde-Geruch, somit also auch
GieÃkannengeruch, Geruch von getrocknetem Wasser und nicht zuletzt
Zigarettengeruch.
Inmitten des kontrollierten Wildwuchses, auf einer kleinen gerodeten
Fläche, saÃen zwei Frauen an einem mit einer runden Marmorplatte versehenen
Tisch, einem dieser nicht umsonst an Hubschrauberdecks erinnernden Plattformen,
welche sich bestens eignen für die Landung durch die Zeit gereisten Kaffees.
Genau ein solcher Kaffee stand hier. Die ältere der beiden Frauen, eine stark
beleibte und stark geschminkte Person, eine granatapfelartige Erscheinung,
hielt eine Zigarette in der Hand. So wie sie das tat, hätte man meinen können,
sie sei die letzte Raucherin, ja als müsse man fürs Rauchen von Gott auserwählt
sein und als wäre Gott in letzter Zeit radikal sparsam damit umgegangen,
jemandem eine solche Ehre angedeihen zu lassen. (Was dann also bedeuten würde,
daà die ganze Kampagne gegen das Rauchen eine lächerliche Ausrede ist, die
Ausrede von Leuten, die sowieso nicht rauchen können, nicht rauchen dürfen und
nun aus der Not eine Tugend machen und sich, von Gott verlassen, in die
Gesundheit stürzen.)
Die letzte Raucherin betrachtete Lorenz
feindselig und fragte mit einer dunklen, jedoch reinen, einer Torpedostimme:
»Was wollen Sie hier?«
»Sie müssen entschuldigenâ¦Â«
»Nichts muà ich.«
»Ich übernehme das Lokal der ehemaligen Bäckerei.«
»Sie sind aber kein Bäcker, oder?«
Wie sahen eigentlich Bäcker aus? War das nur ein Witz, wenn
behauptet wurde, Bäcker hätten stets einen Ausdruck von Müdigkeit im Gesicht?
Oder wenn man sagte, Krankenschwestern würden hinterlistig anmuten? Und
Mathematiker debil? Und Bibliothekarinnen streng? War diese Frau hier eine
Bibliothekarin, bloà weil sie Lorenz einen Blick schenkte, als wollte sie ihm
die Ohren langziehen und ein paar Zähne reiÃen? â Und die andere Frau? Was
hatte sie wohl für einen Beruf, so zierlich und blaÃ, wie sie war. Der
unsichere Typ, der Schnupfentyp, der schnell rote Backen bekam und die Hände
zwischen die Schenkel klemmte und beim Reden schwer atmete oder lieber gar
nicht sprach. Mit Sicherheit Allergikerin. Aber eine hübsche Allergikerin, wie
Lorenz sofort feststellte.
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