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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Manche Bleistifte wiederum besitzen
Bißstellen, obwohl man doch schwören könnte, nie und nimmer an diesem Bleistift
gekaut zu haben, und auch gar nicht weiß, woher dieser Bleistift stammt. Aber
Bleistifte kommen und gehen, und man denkt sich nichts dabei. Und Kaffee? Wie
wird Kaffee in hundert Jahren schmecken? Etwa so wie dieser hier?
    Lorenz kippte den letzten Schluck einer möglicherweise durch die
Zeit gereisten und logischerweise dabei etwas kalt gewordenen Flüssigkeit
hinunter, stellte die Tasse zurück und erhob sich. Er betrat nun ebenfalls den
Gartenboden, der sich ausgesprochen weich anfühlte, als wäre die Erde stark aufgelockert
und als seien die Grashalme in der Art seriellen Ikebanas in den Boden gesteckt
worden. Es war Lorenz ein Rätsel, wie Claire Montbard mit ihren Schuhen hier
gehen konnte. Er selbst schritt wie über ein Meer von Nacktschnecken, als er
sich jetzt hinüber zu dem Blumenbeet bewegte.
    Â»Haben Sie sich entschieden?« fragte Montbard.
    Â»Ich nehme das Geld. Und verpflichte mich zur Rückzahlung in sieben
Jahren.«
    Â»In genau sieben Jahren, nicht vergessen.
Wir haben heute den 14. Juli. Das Datum sollten Sie sich merken.«
    Â»Das werde ich tun.«
    Â»Wenn nicht oder wenn Sie das Geld nicht zurückzahlen, werde ich Sie
daran erinnern, was Sie mir schuldig sind: eine Lebensrettung.«
    Â»Dazu wird es nicht kommen.«
    Â»Wäre es denn so schlimm, jemandem vor dem Tod zu bewahren?«
    Â»Das kommt auf den Jemand an. Ich möchte gerne selbst entscheiden,
wem ich eine solche Gunst erweise.«
    Â»Nun, wir werden sehen«, sagte Montbard. »Gehen Sie jetzt. Mein
Bruder wartet drinnen. Geben Sie ihm Ihre Kontonummer. Er wird alles
erledigen.«
    Â»Ihr Sekretär ist er also auch noch.«
    Â»Er kriegt nur die kleinen Jobs«, erklärte Claire Montbard. Und
entließ Lorenz mit der selten gewordenen Phrase: »Gott schütze Sie.«
    Â»Wieso das denn?« fragte Lorenz, der bereits im Gehen begriffen war,
über den ekelhaft weichen Boden steigend.
    Â»Weil ich nicht will, daß Sie mir in diesen sieben Jahren
wegsterben.«
    Gut, das war ein Argument. Ein wenig hart formuliert, aber es hatte
etwas für sich. Lorenz schickte ein letztes Lächeln in Richtung Montbard. Im
gleichen Moment wandte sich jene Person um, die da noch immer kniend in der
Erde wühlte, und gab ihr Gesicht preis. Es war tatsächlich das Gesicht einer
Frau. Ein flaches, faltiges, von Wind und Sonne vernarbtes Antlitz. Furchen,
Risse, Krater. Eine Katastrophe von Gesicht. Freilich eine wirkungsvolle
Katastrophe. Und mitten drin, unverkennbar, das Violett und Grau der
Montbardschen Augen.
    Die alte Frau sagte etwas auf Polnisch. Es klang, als stecke in
ihrem Mund eine kleine Fabrik, so eine Fabrik wie früher, wo die Frauen während
der Arbeit ihre Kinder entbunden haben. Gleich darauf widmete sie sich wieder
ihrem Blumenbeet.
    Lorenz ging nach drinnen und gab dem bereits wartenden
Dienstbotenbruder die Nummer eine jener monetären Parkplätze, auf die Geld wie
ein flüchtiger Schauer niederzugehen pflegt. Sodann bedankte er sich für den
Kaffee, als hätte es sich dabei um eine persönliche Geste zwischen zwei Männern
gehandelt. Montbards Bruder sagte kein Wort. Es war nicht einmal sicher, ob er
überhaupt sprechen konnte.
    Man stelle sich eine Familie vor, in der nur die Frauen reden.
    Lorenz trat wieder auf die Straße. Er fühlte sich
gleichzeitig erleichtert wie unwohl. Sieben Jahre! Ein wenig war es so, als
hätte er gerade mit seinem Hausarzt gesprochen. Wenn die Frist von sieben
Jahren ein Todesurteil darstellte, dann ein merkwürdiges. Sieben Wochen, sieben
Monate – das mochte erschreckend kurz sein, doch es war normal. Aber wie
bitteschön hatte man sich »sieben Jahre« zu denken? In sieben Jahren konnte man
viermal sterben und dreimal gesund werden.
    Lorenz dachte: »Vielleicht hätte ich lieber zu einer Bank gehen
sollen.« So wie man dachte: Vielleicht hätte ich statt der angeblichen
Steinpilze lieber diesen japanischen Kugelfisch essen sollen.

3  |  Ein
Dschungel auf Pluto
    Drei Tage später stand er mit einem unfreundlichen
Menschen im leeren Verkaufsraum der ehemaligen Bäckerei Nix .
Der unfreundliche Mensch war Makler und vertrat die Gesellschaft, der dieses
Haus gehörte. So unfreundlich dieser Mensch auch war – er blickte ständig an
Lorenz

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