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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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man
    allgemein nicht gern über sie
spricht.«
    Â 
    (A. A. Milne, Pu
der Bär )

10  |  Ein
Agent erster Klasse
    Wenn man mich gelegentlich nach meinem Alter fragt, muß
ich innerlich lachen. Ich stelle mir vor, wie die Leute reagieren würden,
wüßten sie darüber Bescheid, wie alt ich wirklich bin. Sie würden, wie man so
sagt, ziemlich dumm aus der Wäsche schauen. Einige täten wohl in Ohnmacht
fallen. Umgekehrt muß erwähnt werden, daß auch ich – um jetzt bei der Wäsche zu
bleiben – von den Socken war, als ich das erste Mal erfuhr, es existierten in
diesem Sonnensystem intelligente Wesen, für die das Leben spätestens mit
neunzig oder hundert Jahren zu Ende ging.
    Wie kann man da intelligent sein? fragte ich, weil ich es damals
noch nicht begriff. Ich hielt die Kürze eines Daseins gleichbedeutend mit
seiner Entwicklungsstufe. Angesichts von Lebewesen, die mit siebzig oder sogar
früher zu vergreisen beginnen, dachte ich an Würmer. Aber da war ich ein Kind
und hatte auch noch nie einen Wurm gesehen. Dort, wo ich herkomme, sind die
Würmer selten. Findet man einen, stopft man ihn aus oder läßt ihn vergolden.
    Als ich größer wurde, änderte sich meine Haltung. Mit einem Mal war
ich fasziniert von der Vorstellung eines kurzen, eines geballten Lebens. So wie
ich zu Anfang den Irrtum begangen hatte, mir eine Wurmexistenz zu denken,
beging ich nun den Irrtum, die Kürze des Erdendaseins mit einer Form höchster
Konzentration gleichzusetzen. Das Leben der Menschen als eine Verdichtung, eine
Sublimation dessen zu begreifen, was ich kannte. Meine Überlegung war die, daß,
wenn meine eigenen Leute seltene Würmer vergoldeten, der ferne Homo sapiens das
gleiche mit der wenigen Zeit tat, die ihm blieb: sie vergoldete.
    Na ja, die Wahrheit ist leider die, daß sich der Mensch diese paar
Jahrzehnte nicht veredelt, sondern vielmehr verdünnt. Er panscht sein Leben zu
einem Getränk, das weder als Wasser noch als Wein durchgeht, mit dem man sich
nicht waschen kann, das aber ebenso wenig taugt, sich richtig schön dreckig zu
machen. Ich meine nicht den Dreck, der mit Krieg und Gewalt und Unterdrückung
einhergeht, ich meine einen guten Dreck, Dreck, wie
er hinten bei den Würmern rauskommt.
    Heute glaube ich zu wissen, daß es genau das ist, was die meisten
Menschen so verdrießlich macht: diese Nähe zum Tod. Sie kommen auf die Welt,
und sobald sie imstande sind, Gedanken zu fassen, ist der Tod bereits ein
Thema. Kaum kann ein Kind ganze Sätze sprechen, fragt es: Warum muß ich
sterben? Gute Frage. Ich meine, angesichts der Tatsache, ins Leben geworfen und
derart rasch wieder aus diesem Leben hinausgespuckt zu werden. – Natürlich ist
es so, daß das eine oder andere Wochenende sich in die Länge zieht, wie auch
der eine oder andere Arbeitstag oder alle Arbeitstage, die Abende vor dem
Fernseher, die Urlaube, das Schuljahr, die vielen Ansprachen und Vorträge, die
Grippe. Aber das Leben als Ganzes ist kurz wie ein Kinderschuh und hat die
Qualität eines halben Schrittes. Eines Schrittes, der nicht zu Ende gegangen
werden kann, sodaß seine eigentliche Bedeutung der Spekulation überlassen
bleibt. Man kommt sich vor wie ein Spieler, welcher, kaum steht er am Platz,
schon wieder ausgetauscht wird. Und der sich selbstverständlich fragt, was sich
sein Trainer dabei gedacht hat. Taktik? Bosheit? Tiefsinn? Oder einfach
Blödheit?
    Das ist wahrscheinlich die größte Angst des Menschen, daß hinter
alledem simple, schlichte Blödheit steckt. Und daß also die Kürze des Lebens
allein auf den Schwachsinn irgendeines Trainers zurückzuführen ist, welcher
ständig Leute ein- und auswechselt, ohne über das geringste Konzept zu
verfügen. Dessen fortwährende Ein- und Austauscherei ein Konzept bloß
vortäuscht.
    Von meinem Standpunkt – vom Standpunkt eines Langlebenden– sieht die Sache freilich ein wenig
anders aus, auch wenn ich ebensowenig Ahnung habe von den übergeordneten
Prinzipien, die unser aller Existenz bestimmen. Aber ich kann mir nur einen
Trainer vorstellen, der weiß, was er tut, wenn er etwa zwei im Grunde
vollkommen identische Wesen mit derart unterschiedlichen Altersgrenzen
ausstattet.
    Es muß nun also ausgesprochen werden: Ich zähle sechshundertundacht
Jahre.
    Lachen Sie? Natürlich lachen Sie. Und ich werde mich hüten
zu

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