Ghost Street
Bad.
Das St. Joseph’s Hospital war ein hässlicher Kasten aus hellbraunen Ziegelsteinen mit schmalen Fenstern, die Alessa stets an ein Gefängnis erinnerten. Der Haupteingang war mit einer gewagten Konstruktion aus Glas und hellen Betonstreben überdacht.
Alessa war schon öfter dort gewesen, beruflich und auch privat, als eine Freundin nach einem Autounfall dort behandelt worden war, und kannte sich aus. Als sie die Aufzüge ansteuerte, um Lydia Murrell in ihrem Krankenzimmer im zweiten Stock zu besuchen, fiel ihr ein schlanker Mann in Jeans und T-Shirt auf, vor allem wegen des riesigen Rosenstraußes, den er mit beiden Händen halten musste. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie Owen Murrell.
Sie drehte auf dem Absatz um und versteckte sich rasch hinter einigen Grünpflanzen. Scheinbar unbeteiligt blicktesie durch eines der großen Fenster auf den Parkplatz hinaus. Ausgerechnet jetzt musste der Ehemann erscheinen, mit einem Rosenstrauß, wie ihn nicht mal die Frau des Präsidenten zum Geburtstag bekam. Groß genug, um eine gebrochene Nase, ein blaues Auge und einen gebrochenen Arm vergessen zu machen.
So machte es fast jeder gewalttätige Mann. Kaum hatte er seine Frau oder Freundin krankenhausreif geschlagen, spielte er den reumütigen Sünder und überschüttete sie mit Geschenken. Die wenigsten Frauen, das wusste Alessa aus bitterer Erfahrung, waren danach noch in der Lage, ihren Mann anzuzeigen, selbst wenn sie es der Staatsanwaltschaft vorher hoch und heilig versprochen hatten. Ein Phänomen, das auch Psychologen nicht eindeutig erklären konnten.
Sie würde dennoch versuchen, Lydia Murrell zu überzeugen. Sobald der Mistkerl das Krankenhaus verlassen hatte, würde sie nach oben fahren und mit ihr sprechen. Natürlich war es möglich, dass Owen Murrell es diesmal ehrlich meinte, aber besonders wahrscheinlich war es nicht. Von hundert gewalttätigen Männern änderten sich vielleicht zwei. Wenn es hochkam. Owen Murrell hatte seine Frau schon sechs- oder siebenmal verprügelt, wenn auch noch nie so heftig wie vorgestern. Er würde sich nie ändern.
Alessa blickte aus dem Fenster und erschrak. In dem Zwielicht, das unter dem gläsernen Dach herrschte, bewegte sich etwas, das kaum zu sehen war. Zuerst glaubte sie an eine optische Täuschung, an eine Spiegelung der weißen Sonne, deren Strahlen durch das Glasdach über dem Eingang gefiltert wurden. Neugierig trat sie an das Fenster heran. Aus der Spiegelung wurden die Umrisse einer Gestalt eines Mannes, der nur aus flirrender und feuchter Luft zu bestehen schien. Ein Geist, der sich in die Helligkeit eines Spätsommertages hinausgewagt hatte und sie mit seinenkörperlosen Armen näher an das Fenster heranwinkte. Ungläubig folgte sie seinen Handbewegungen, schob sie sich wie im Traum weiter auf das Fenster zu, bis sie mit der Nase gegen die kühle Glasscheibe stieß.
Die Gestalt sagte etwas. Ihre Lippen waren kaum zu erkennen, waren nicht mehr als ein gläserner Schatten in der feuchten Luft, aber sie bewegten sich und sagten immer das eine Wort. Sie las es von den Lippen ab: »Lydia.« Der Name der misshandelten Frau. Immer nur »Lydia«, ungefähr zehnmal, dann löste sich die Gestalt auf, wie die vermutete Luftspiegelung, die sich in trockener Luft verflüchtigte.
»Stimmt was nicht, Miss?«
Sie fuhr herum und sah sich einem Arzt gegenüber, einem jungen Mann mit blauen Augen. Er fand sie attraktiv, das erkannte sie an dem Blitzen in seinen Augen, eine Reaktion, die sie häufig bei Männern auslöste. Warum sich so viele Männer für sie interessierten, wusste sie nicht. Sie fand sich gar nicht sonderlich attraktiv und ärgerte sich über ihre leicht gebogene Nase und ihre schmalen Lippen, aber diese kleinen Schönheitsmängel wurden wahrscheinlich von ihren dunklen Augen und den dunklen Haaren wettgemacht, ein Erbe ihrer indianischen Vorfahren. Vielleicht war ein Schamane dabei gewesen, der ihr magische Kräfte vererbt hatte. »Ich? Äh … nein. Ich dachte, ich hätte einen Bekannten gesehen. Alles in Ordnung, Doktor.«
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, nein … es geht schon.« Er trug keinen Ehering und hätte sie wahrscheinlich zum Essen eingeladen, wenn sie etwas entgegenkommender gewesen wäre, aber dazu war es noch zu früh. Bevor sie sich auf eine neue Beziehung einließ, musste sie erst mal die alte verdauen. Die Trennung von Mike war starker Tobak gewesen. »Ich komme zurecht, Doktor.«
Der Arzt zog sich zurück, und ihr wurde plötzlich
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