Ghost Street
»Wichser!«, schimpfte sie.
»War das nötig?«, fragte Harmon, als sie das Gefängnis verlassen hatten und zum Wagen zurückkehrten. »Ich meine, hat das irgendetwas gebracht?«
»Ich fühle mich besser«, sagte sie. »Viel besser. Lust auf einen Kaffee?«
10
Alessa hatte sich wieder einmal maßlos überschätzt. Sie war schon nach einem Muffin so satt, dass sie den zweiten ihrer Kollegin überließ, die um die Mittagszeit von einer Verhandlung zurückkehrte. Sie hieß Marylin, wie die berühmte Monroe, war aber etwas fülliger und wirkte viel spröder.
Crosby war mit einem Industrieboss, der seinen Wahlkampf unterstützt hatte, beim Mittagessen, als Alessa aufbrach. Sie suchte nach dem Hefter mit ihrer Seminararbeit, fand ihn nach einigem Suchen in ihrer Schublade, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, ihn dorthin gelegt zu haben, und verließ das Gerichtsgebäude. Auf kürzestem Weg fuhr sie zu den City Police Barracks, den historischen Gebäuden im äußersten Südwesten der Stadt, wo die Detectives ihr Büro hatten.
Weil sie spät dran war und um Jenn und Harmon nicht unnötig warten zu lassen, beschloss sie, ihnen die Seminararbeit persönlich zu übergeben. Sie winkte dem diensthabenden Sergeant zu, der sie kannte, und stieg in den ersten Stock hinauf. Die beiden Detectives saßen nicht an ihrem Platz.
»Alessa!«, erklang die sonore Stimme des Lieutenants. Er stand am Schreibtisch eines Detectives und hielt einen Kaffeebecher in der Hand. »Ich hab von Ihrem unfreiwilligen Bad im Savannah River gehört. Sie sind jetzt berühmt, wissen Sie das? Das war sehr mutig von Ihnen.«
»Leider hat es nichts gebracht«, erwiderte sie. »Sie war schon tot, als ich den Sack zu fassen bekam. Die Arme muss sehr gelitten haben.« Sie deutete auf die leeren Stühle.»Ich wollte eigentlich zu Jenn und Harmon.« Harmon war der einzige Detective, den jeder nur beim Nachnamen nannte. »Die beiden haben wohl Nachtschicht?«
»Sie sind in Reidsville und verhören Jeremy Hamilton.« Der Lieutenant kam näher, trank den Kaffee aus und warf den leeren Becher in einen Papierkorb. »Ich halte es durchaus für möglich, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat oder uns zumindest auf die Spur des Killers führen kann.« Er blickte auf den Hefter. »Haben Sie was für die Detectives?« Er sah zu der Uhr über der Tür des Großraumbüros. »Sie müssten jeden Augenblick hier sein.«
Alessa reichte ihm den Hefter. »Wenn Sie ihnen das bitte geben könnten … ich muss gleich weiter.« Sie lächelte. »Meine Seminararbeit über Jeremy Hamilton und die Verbrechen des Ku-Klux-Klan in Savannah und Umgebung. Kein literarisches Meisterwerk, aber vielleicht hilfreich, falls der Mord an Angela Rydell tatsächlich etwas mit den damaligen Verbrechen zu tun hat. Was glauben Sie, Lieutenant Stabler? Läuft da draußen ein verrückter Klansmann herum, der das Werk von Jeremy Hamilton fortführt und sich an den Kindern oder Enkeln der damaligen Opfer vergreift? Dass er sich ausgerechnet Angie Rydell ausgesucht hat, spricht eigentlich dafür. Oder glauben Sie an einen gewöhnlichen Copy-Killer, der unbedingt ins Fernsehen und in die Presse will?«
»Ich gehe davon aus, dass sich einer von Hamiltons Kumpanen auf diese Weise für die Verurteilung rächen will. Alles andere wäre eine Katastrophe. Ich war zehn, als der Ku-Klux-Klan durch die Straßen zog, und habe keine Lust, gegen die Nachkommen dieser Verrückten anzutreten.« Er atmete tief durch. »Mal sehen, was Jenn und Harmon aus Hamilton herausbekommen. Unsere Neue aus Chicago ist ziemlich hartnäckig.«
»Das habe ich auch schon gehört«, sagte Alessa. »Bis später, Lieutenant.«
Sie ging ins Erdgeschoss und kehrte zu ihrem Wagen zurück. Obwohl die Wolken näher gekommen waren und die Sonne nur noch als weiße Scheibe in den Dunstschwaden zu sehen war, lag immer noch drückende Schwüle über der Stadt. Bald würde es ein Gewitter geben. Sie setzte sich in ihren Wagen und startete den Motor, lehnte sich für einen Moment zurück und genoss die kühle Luft der Klimaanlage.
Aus Gewohnheit checkte sie in dem kleinen Spiegel der Sonnenblende ihr Aussehen. Ihr Make-up hatte kaum in der feuchten Luft gelitten, und ihr lockerer Haarknoten saß so, wie sie ihn haben wollte. Das Kostüm, die Bluse, alles so, wie es sich für eine junge Staatsanwältin gehörte. Nur ihre Augen waren unnatürlich gerötet, eine Nachwirkung des verschmutzten Flusswassers und der heißen Dusche nach dem eiskalten
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