Ghost Street
paar Jahre einzusperren.«
»Das glaube ich kaum«, erwiderte er. Im Gegensatz zu ihr zeigte er selten Emotionen. »Sein Verteidiger würde Ihnen vorhalten, dass Sie den Vorfall gar nicht genau beobachten konnten, weil Murrell Ihnen den Rücken zugewandt hatte, und das Opfer würde ihm zustimmen und ihrem Mann weinend um den Hals fallen und auf die böse Staatsanwältin schimpfen, die ihren Mann ins Gefängnis bringen will. Sie wissen doch, wie das läuft.«
Alessa seufzte enttäuscht. »Ja, ich weiß. Eine Schande, dass Typen wie dieser Murrell straffrei davonkommen. Wahrscheinlich müssen wir warten, bis er seine Frau getötet hat. Wenn man ihr nur klarmachen könnte, in welch großer Gefahr sie schwebt.«
»Niemand kann uns garantieren, dass in jedem Fall die Gerechtigkeit siegt«, sagte Crosby. »Das Recht vielleicht, aber nicht die Gerechtigkeit.«
Den Satz hatte Alessa schon während ihres Studiums gehört, und auch an diesem Nachmittag dachte sie wieder lange darüber nach. Mit ihrer Kollegin sprach sie nicht darüber. Marylin verstand es wesentlich besser als sie, die Gefühle bei einem Fall zu verdrängen. Selbst wenn es um Vergewaltigungen oder den Mord an einem Kind ging,blieb sie kühl und gefasst. Wie eine Ärztin oder Krankenschwester, die nichts Persönliches an sich ranließ. »Du musst cooler werden«, hatte sie mal zu Alessa gesagt, »sonst holst du dir nur ein Magengeschwür.«
Um sich abzulenken, beschäftigte sich Alessa an diesem Nachmittag vor allem mit lästiger Korrespondenz und Akteneinträgen. Sie war so in diese ungeliebte Arbeit vertieft, dass sie gar nicht merkte, wie es draußen rasch dunkler wurde und die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben schlugen. Erst ein dumpfer Donnerschlag ließ sie zusammenfahren und ängstlich nach draußen blicken.
Um halb sechs, die anderen waren schon gegangen, verließ sie das Büro. Ohne Schirm, die flache Aktentasche über dem Kopf, eilte sie zu ihrem Wagen. Ein weißer BMW, typisch Anwältin, wie ihr Vater gespottet hatte, aber gebraucht und nicht das neueste Modell. Sie warf die Aktentasche auf die Rückbank und setzte sich hastig hinters Lenkrad, zog dann rasch die Tür zu und atmete erst einmal durch. Das Gewitter stand über der Stadt und dicke Regentropfen prasselten auf den Wagen.
Sie wartete, bis der gröbste Regen vorbei war, und nutzte die Zeit, um die Sonnenblende mit dem Spiegel herunterzuklappen und ihre Frisur zu richten. Statt den aufgelösten Knoten zu erneuern, band sie ihre Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz. Außer der Bedienung bei Starbucks, wo sie sich eine heiße Schokolade für ihr Abendessen holen würde, als Belohnung für einen anstrengenden Tag sozusagen, würde sie niemand sehen.
Als nur noch vereinzelte Regentropfen vom Himmel fielen, startete sie den Motor. Durch die tiefen Wasserlachen auf dem Parkplatz fuhr sie auf die Montgomery Street hinaus. Das Licht ihrer Scheinwerfer spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Starbucks lag in der East BroughtonStreet, nur ein kleiner Umweg, der sich aber lohnte, denn ihr eigener Kakao ließ sehr zu wünschen übrig, und der Cappuccino aus der Dose war nur ein schwacher Ersatz für den heißen Göttertrank.
Mike hatte ihre Starbucks-Macke nie verstanden. Heiße Schokolade oder Kakao mochte er sowieso nicht, und woher der Kaffee kam, war ihm egal. Er sah nicht einmal beim Bier aufs Etikett. Eine Angewohnheit, die sie geschluckt hätte, wenn er nicht so ein überzeugter Macho gewesen wäre. Für einen Mann zu Hause bleiben, die Betten machen und im Kochtopf rühren, womöglich an jedem Monatsersten um das Haushaltsgeld betteln und bei jedem privaten Einkauf um Erlaubnis bitten müssen … wenn er damit früher herausgerückt wäre, hätte sie ihn schon beim ersten Date versetzt.
Alessa war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe die rote Ampel an der Kreuzung übersehen hätte. Entschlossen trat sie auf die Bremse. Ihr Wagen schlitterte über den nassen Asphalt und kam dicht vor einem Mann zu stehen, der entsetzt zur Seite sprang, das Gleichgewicht verlor und auf die Straße stürzte.
Alessa sprang aus dem Wagen und erwartete eine wüste Beschimpfung, glaubte schon zu hören, wie er »Weiber am Steuer« murmelte und ihr lautstark eine Klage androhte, aber nichts dergleichen geschah. Er lächelte sogar, als sie ihm aufhalf, und sagte: »Halb so schlimm, Miss. Ich hab heute sowieso meine alten Klamotten an.«
»Tut mir leid«, stieß sie verstört
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